- Der Klimaforscher Mojib Latif warnt wie viele seiner Kollegen und Kolleginnen bereits seit Jahrzehnten vor den Auswirkungen des Klimawandels. Bislang ist aber zu wenig passiert.
- Im Interview ruft er daher zum schnellen Handeln auf und sagt: "Wir stehen mit dem Rücken zur Wand, also eigentlich schon dicht am Abgrund."
- Er nimmt dabei Politik und Gesellschaft gleichermassen in die Pflicht, einen radikalen Wechsel zu vollziehen – und macht einen Vorschlag, wie das seiner Meinung nach gelingen könnte.
Professor Latif, Sie sitzen in Hamburg, wo es seit einiger Zeit sehr trocken ist. Ich sitze in München, wo es derzeit kühl und wechselhaft ist. Und unlängst gab es Unwetter in der Mitte Deutschlands mit Tornados. Da fragt man sich natürlich: Inwiefern hängen diese Wetterlagen schon mit dem Klimawandel zusammen?
Mojib Latif: Man kann nie einzelne Wetterereignisse nehmen und sagen, dass die mit dem Klimawandel direkt zusammenhängen. Aber wir beobachten eben doch schon in den letzten Jahren und Jahrzehnten, dass sich Wetterextreme häufen, dass sie sich zum Teil auch intensivieren. Und das ist deutliches Zeichen dafür, dass die globale Erwärmung einen deutlichen Einfluss auf das Wettergeschehen nimmt, nicht nur bei uns in Deutschland, sondern überall auf der Welt. Und wenn man einfach mal Revue passieren lässt, was alles in den letzten zwei Jahren passiert ist, dann ist das schon erschreckend.
Die verheerenden Brände in Australien vor gut zwei Jahren etwa …
Ja, Touristen mussten ans Meer flüchten, um von der Marine gerettet zu werden. Dann die ganzen Tiere, die gestorben sind, die Koalas, die gerettet werden mussten. Das mündete jetzt darin, dass es einen Regierungswechsel gegeben hat. Der ehemalige Premier Scott Morrison war ein Bremser beim Klimaschutz, hat das alles nicht ernst genommen und hat dafür jetzt die Quittung bekommen. Die Auswirkungen des Klimawandels sind einfach nicht mehr wegzudiskutieren: Letztes Jahr im westlichen Kanada, da wurden an die 50 Grad gemessen. Hunderte von Menschen sind gestorben, Menschen mussten sich in öffentliche Kühlräume flüchten. Dann kurze Zeit später auch im Juli bei uns die Flut, die es so noch nie gegeben hat. Wir stehen heute bei 1,1 Grad globale Erwärmung und wir sehen, was das schon für Auswirkungen hat. Deswegen muss man jetzt zusehen, dass man die Erwärmung wirklich begrenzt. Die 1,5-Grad-Marke werden wir reissen, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Unter zwei Grad können wir noch bleiben, aber selbst das ist eine Riesenherausforderung.
Jetzt gibt es ja aber in Deutschland in den letzten Monaten zumindest schon das eine oder andere positive Signal, von kleinen Dingen wie dem 9-Euro-Ticket bis hin zu den 200 Milliarden für den Klimaschutz, die Finanzminister
Na ja, man muss abwarten. Ankündigungen sind eine Sache und was dann am Ende passiert, ist eine andere. Zum 9-Euro-Ticket: Im Prinzip finde ich das gut, aber es müsste eigentlich immer gelten, über einen Zeitraum von drei Monaten kann es vielleicht sogar abschreckend wirken.
Inwiefern?
Stellen Sie sich mal vor, die Züge sind jetzt alle gnadenlos überfüllt und die Pendler, die ohnehin mit der Bahn fahren, die leiden darunter und steigen dann aufs Auto um. Gut finde ich aber, dass das einen gewissen Feldversuch-Charakter hat, man wird schon irgendwelche Erfahrungen daraus ziehen können. Und ich glaube, ein weiterer Punkt ist wichtig: Dass wir die Aufmerksamkeit in Richtung öffentlicher Personennahverkehr richten. Leider gibt es jetzt einen Tankrabatt, was meiner Meinung nach völlig falsch ist. Weil er die Mobilitätswende behindert und die Mineralölkonzerne einen Teil abschöpfen. Aber wie gesagt, man beginnt zu diskutieren. Und ich hoffe, dass es nicht bei der Diskussion bleibt und man einen nachhaltigen Effekt hat.
Noch einmal kurz zu der Frage zuvor. Sie haben die Extremwetterereignisse angesprochen, die wir mittlerweile ja weltweit und auch in Deutschland vermehrt erleben. Sie sprechen in Ihrem neuen Buch "Countdown" auch von sogenannten Compound Events. Können Sie das kurz erläutern?
Wörtlich übersetzt heisst das "zusammengesetzte Ereignisse". Das sind Ereignisse, bei denen bestimmte Dinge gleichzeitig passieren. Wenn einzelne Wetterextreme gleichzeitig auftreten oder auch dicht aufeinanderfolgen, dann spricht man von solchen Compound Events. Stellen Sie sich vor, wir haben sehr, sehr nasse Bedingungen und darauf folgt eine Trockenheit. Das ist ja eigentlich gut, weil die Böden wieder abtrocknen können. Nun stellen Sie sich das aber mal umgekehrt vor. Also wenn wir erst eine extreme Trockenheit haben und dann kommt Starkregen. Das Wasser kann nicht einsickern, sondern es fliesst dann oberflächlich ab und reisst alles mit sich. Die einzelnen Ereignisse, die vielleicht gar nicht so extrem sind, werden dann in der Summe zu extremen Ereignissen.
Und treten diese zusammengesetzten Ereignisse jetzt häufiger auf?
Die Wahrscheinlichkeit steigt einfach, je häufiger Wetterextreme auftauchen. Wetterextreme können ja ganz unterschiedlicher Natur sein, umso mehr steigt auch die Wahrscheinlichkeit für solche Compound Events.
Werfen wir einen Blick zurück in die Historie: Die Wissenschaft weiss seit mehr als 100 Jahren um die Zusammenhänge zwischen CO2 und Klima. Und der Club of Rome hat vor ziemlich genau 50 Jahren schon gewarnt, welchen Einfluss menschliches Handeln auf das Erdsystem haben könnte. Was ist die letzten 50 Jahre schiefgelaufen?
Das ist natürlich ein abendfüllendes Thema. Ich selbst dachte vor einigen Jahrzehnten, dass es reicht, wenn die Wissenschaft die Fakten kommuniziert und die Politik dann weiss, worum es geht und die Dinge umsetzt. Aber das ist eben nicht passiert, aus verschiedenen Gründen. Beim Klima liegt das unter anderem daran, dass das Thema immer noch sehr abstrakt ist. CO2 können Sie nicht sehen. Wir haben heute schon einen Gehalt von CO2 in der Luft, den hat es seit mindestens drei Millionen Jahren nicht mehr gegeben. Aber wir merken es nicht. Es stinkt nicht, hören können wir es nicht, schmecken und ertasten auch nicht. Unsere fünf Sinne sind nicht geeignet, um das zu erkennen. Ein weiterer Grund ist die Langfristigkeit des Problems: Wir hecheln von Krise zu Krise. Und dabei vergisst man die eigentlich grossen Krisen. Es ist ja nicht nur die Klimakrise, sondern zum Beispiel auch der Rückgang der Biodiversität, also das Artensterben. Es ist uns Menschen offenbar nicht gegeben, langfristig zu denken.
Gibt es noch weitere Gründe?
Unsere Medienlandschaft hat sich verändert. Wir haben eine Krise der traditionellen Medien, wenn ich das mal so sagen darf, hervorgerufen durch die Neuen Medien, die sozialen Netzwerke. Jeder kann letzten Endes seine kruden Thesen verbreiten und findet auch Follower. Wir haben nicht gelernt, seriöse von unseriöser Information zu unterscheiden. Das haben wir auch bei Corona gesehen: Warum haben sich so viele Menschen nicht impfen lassen? Das ist ein neues Problem, mit dem müssen wir uns auseinandersetzen. Es gefährdet letzten Endes alles, auch unsere Freiheit.
Sie selbst forschen ja auch schon seit Jahrzehnten zu der Thematik und haben wie oben erwähnt gedacht, es würde ausreichen, die Fakten auf den Tisch zu legen. Würden Sie jetzt im Nachhinein mit Ihrem Wissen von heute etwas anders machen in den letzten 20, 30 Jahren?
Nein, ich denke nicht. Es gibt eine gewisse Rollenverteilung in der Gesellschaft. Wir Wissenschaftler schaffen Wissen, wir zeigen Optionen auf, aber wir entscheiden nicht. Die Exekutive entscheidet auf der Basis des Wissens, das wir generieren. Und so soll es auch sein. Deswegen kann ich nicht erkennen, dass wir falsch kommuniziert hätten. Das Thema ist oben auf der politischen Agenda angekommen. Seit über einem Vierteljahrhundert gibt es die alljährlichen Weltklimakonferenzen. Die gibt es schliesslich nur deswegen, weil wir kommuniziert haben. Sie sind aber nicht zielführend.
Sie beklagen in Ihrem Buch, dass bei diesen Konferenzen oft nur wachsweiche Kompromisse herauskommen …
Wir hatten letztes Jahr in Glasgow die 26. Weltklimakonferenz. Und was ist das Resultat? Seit es die Klimakonferenzen gibt, ist der weltweite CO2-Ausstoss explodiert. Deswegen glaube ich auch ehrlich gesagt nicht daran, dass uns die Klimakonferenzen weiterbringen.
Was wäre aus Ihrer Sicht zielführend?
Wenn es Länder gäbe, die vorangehen, die zeigen, wie es geht und dann auch die sanktionieren, die nicht mitmachen wollen. Deutschland sollte natürlich dazugehören, am besten ganz Europa. Amerika sollte dazugehören und die sollten dann tatsächlich Ländern wie China oder Russland oder auch Brasilien die Grenzen aufzeigen. Wir haben ja im Moment die Diskussionen rund um den Ukraine-Krieg, dass wir uns so abhängig gemacht haben von Russland. Das kann man fortsetzen: Wir sind auch viel zu abhängig von China. Wir trauen uns gar nicht mehr, etwas gegen Menschenrechtsverletzungen oder den überbordenden CO2-Ausstoss [China hatte im Jahr 2020 den höchsten CO2-Ausstoss aller Länder und einen Anteil von 30,65 Prozent an den weltweiten CO2-Emissionen; Anm.d.Red.] zu sagen. Wir produzieren in China, Stichwort VW – sogar in der Provinz, wo es diese Lager [Straf- und Umerziehungslager für die unterdrückte Minderheit der Uiguren; Anm.d.Red.] gibt.
Auf der anderen Seite bringen Sie auch eine moralische Verpflichtung ins Spiel und fordern eine sogenannte kulturelle Revolution. Was meinen Sie damit?
Diese kulturelle Revolution, die betrifft alle Bereiche der Gesellschaft. Sie fängt bei jedem Einzelnen an, beim Umgang der Menschen miteinander, und hört bei den Beziehungen zwischen den Staaten und bei der Weltwirtschaft auf. In der Wirtschaft ist es im Moment ja so: Umweltzerstörung lohnt sich. Umwelt hat offensichtlich keinen Wert, wird nicht geschätzt und das muss sich ändern. Das geht in unserer Welt nur über die entsprechende Setzung der Rahmenbedingungen, also etwa durch eine CO2-Bepreisung.
Wo sehen Sie die Verantwortung der Gesellschaft?
Wir müssen uns fragen: Was sind unsere Werte? Ist ein Geländewagen ein Wert oder ist nicht eher Familie ein viel grösserer oder eine intakte Umwelt? Diese gesellschaftliche Diskussion müssen wir führen. Müssen wir unbedingt dreimal im Jahr nach Mallorca fliegen? Macht das wirklich glücklich oder gibt es nicht andere Dinge, die vielleicht viel, viel glücklicher machen? Insofern ist es ein weites Feld und niemand kann sich wegducken bei dieser kulturellen Revolution. Ganz wichtig meiner Meinung nach sind auch die Religionen. Die Weltreligionen müssten sich doch an die Spitze dieser Bewegung setzen. Es geht ja schliesslich um die Bewahrung der Schöpfung. Der Papst hat eine Umwelt-Enzyklika geschrieben, die auch in Teilen sehr vernünftig ist. Aber wo ist die Diskussion? Wir haben uns in einer kranken Welt eingerichtet, die uns letzten Endes in den Abgrund führt. Das fängt bei kriegerischen Auseinandersetzungen an und hört dann bei der Zerstörung der Umwelt auf.
Sie haben vorhin auch über Wissenschaftskommunikation gesprochen. Für viele Menschen ist das Thema Klima sehr abstrakt und kompliziert. In Ihrem Buch erklären Sie Kipppunkte anhand des Gesellschaftsspiels Jenga. Wäre das vielleicht auch ein Weg, um das Thema alltagsfreundlicher an die Menschen zu bringen? Und müsste man das nicht noch viel mehr machen?
Absolut, absolut. Wir müssen erstens viel verständlicher kommunizieren. Wenn es in öffentlichen Debatten immer um die Transformation geht, dann kann damit doch kein Mensch etwas anfangen. Unsere bisherige Sprache ist nicht geeignet, um einen grossen Teil der Bevölkerung mitzunehmen. Das müssen wir ändern. Und das andere sind Bilder: Wir müssen versuchen, Bilder in den Köpfen der Menschen zu erzeugen. Ich meine, es geht mir doch ganz genauso, wenn es um irgendeinen anderen Wissenschaftsbereich geht. Da verstehe ich doch auch nichts von und bin heilfroh, wenn mein Kollege oder meine Kollegin mir das versuchen auf einfache Weise zu erklären. Das entbindet die Politik aber nicht vom Handeln.
Eine der Folgen dieser Kommunikation ist ja beispielsweise auch, dass es sehr weit verbreitete Missverständnisse gibt, wie zum Beispiel, dass wir die Temperaturerhöhung wieder umkehren könnten. Leider ist das Gegenteil der Fall: Selbst wenn wir die CO2-Emissionen jetzt sofort auf null senken würden, könnten wir die derzeitige Temperaturerhöhung gerade einmal auf dem jetzigen Niveau halten.
Genau so ist es und das hat auch einen ganz einfachen Grund. Das CO2, das wir heute in der Luft haben, bleibt dort für Jahrhunderte, für Jahrtausende und deswegen wird die Temperatur auch nur ganz allmählich zurückgehen. Wir können bestenfalls Schadensbegrenzung betreiben und werden in absehbarer Zeit nicht wieder auf das vorindustrielle Temperaturniveau zurückkommen.
Der Ton Ihres Buches schwankt zwischen Ungläubigkeit, dass immer noch nichts passiert ist, und Anklage gegenüber der Politik auf der einen Seite, aber auch Optimismus auf der anderen. Was ist Ihre persönliche vorherrschende Emotion bei dem Thema?
Ich bin tatsächlich hin- und hergerissen, deswegen ist das Buch auch so geschrieben. Ich habe ehrlich gesagt keine Position, dass ich sagen könnte, ich bin immer noch total optimistisch oder ich bin total pessimistisch. Aber ich glaube, eine Sache kann man schon erkennen, wenn man sich ansieht, welchen Umfang der hoffnungsvolle Teil am Ende hat. Der ist ja relativ klein im Vergleich zum Rest des Buches [12 von 224 Seiten, Anm.d.Red.]. Deswegen heisst das Buch auch "Countdown", weil wir mit dem Rücken zur Wand stehen, also eigentlich schon dicht am Abgrund. Ein bisschen weniger Auto fahren oder ein bisschen weniger fliegen, das hilft jetzt nicht mehr. Wir brauchen systemische Veränderungen. Das heisst, wir müssen unsere Welt radikal umbauen – und das sehr schnell.
Wie kann man das Ihrer Meinung nach schaffen?
Ich glaube, wir müssen die Menschen begeistern. Im Moment führen wir immerzu eine Verzichtsdebatte und zeigen den Menschen nicht auf, was man eigentlich gewinnen kann. Die Menschen müssen aber spüren, dass sie profitieren, sonst machen sie es nicht. Wenn man zum Beispiel die Menschen jetzt einseitig belastet über den CO2-Preis, dann kann ich gut verstehen, dass die allermeisten Menschen, die ohnehin steigende Mieten haben, Inflation und so weiter, dass für die dann irgendwann Klimaschutz ein Reizwort wird. Wenn wir jetzt also Geld über die CO2-Bepreisung einnehmen, dann muss man denen, die es wirklich nötig haben, das Geld auch zurückgeben. Man kann auch Schulen sanieren, Sozialprojekte fördern. Dann sehen die Leute, das Geld verschwindet nicht in den Haushalt des Bundesfinanzministers, sondern wir haben wirklich was davon. Ich denke auch an autofreie Innenstädte, die sauber und grün sind, die relativ leise sind, wo man sitzt, wo man sich treffen und flanieren kann. Das möchte doch jeder. Das bedeutet aber umgekehrt auch wieder, dass es Angebote geben muss, wie man dahin kommt. Womit wir wieder beim Nahverkehr und der Diskussion ums 9-Euro-Ticket wären.
Wenn Sie zum Abschluss jetzt noch eine Botschaft loswerden könnten, was wäre das?
Ich habe sogar zwei Botschaften. Eine an die Gesellschaft, und die lautet: Weniger ist mehr. Wir schmeissen unheimlich viele Lebensmittel weg. Und wir verschwenden Energie und Rohstoffe. Wir könnten unseren Wohlstand behalten, wenn wir effizienter werden und nicht so viel verschwenden. Die zweite Botschaft ist an die Politik gerichtet: Weg mit den Subventionen für nicht nachhaltige Produkte. Nachhaltig gefertigte Produkte müssen billiger sein als nicht nachhaltige Produkte, sonst werden sie sich nie durchsetzen. Das Stichwort hier ist Externalisierung von Kosten. Momentan trägt die Allgemeinheit die Kosten der Umweltschäden. Und das geht nicht. Es muss das Verursacherprinzip gelten. Und wenn das gilt, dann müssen die Subventionen zum Beispiel für die fossilen Brennstoffe weg.
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