Es gibt immer mehr Tier- und Pflanzenerkennung-Apps, die auf Künstliche Intelligenz setzen. Kann KI uns dabei helfen, die Verbindung zur Natur zu stärken?
Als Studentin war ich kein grosser Fan der Pflanzenbestimmung. Ich erinnere mich noch gut daran, wie wir im Sommer 2012 in kleinen Gruppen Gräser rund um Jena bestimmten. Unser Botanik-Professor schritt gut gelaunt voran und zeigte begeistert auf die verschiedenen Gräser, während wir in alten Bestimmungsbüchern blätterten und mühsam versuchten, herauszufinden, um welche Grasart es sich handelt.
Mittlerweile hat sich meine Einstellung zur Pflanzenbestimmung geändert. Vielleicht liegt es am Alter, vielleicht aber auch daran, dass es heute viel einfacher ist, Pflanzen zu erkennen, zum Beispiel mit der Pflanzenbestimmungs-App Flora Incognita, einem Projekt der Technischen Universität Ilmenau und des Max-Planck-Instituts für Biogeochemie Jena. Mit Flora Incognita können Nutzerinnen und Nutzer rund 16.000 Pflanzenarten bestimmen und dabei viel über deren Verbreitung, Schutzstatus und Besonderheiten erfahren.
Die Zahl der Pflanzen- und Tierbestimmungs-Apps steigt
Sobald ich einer unbekannten Pflanze begegne – und das passiert ziemlich oft, mein Botanikkurs hat offensichtlich nicht nachhaltig gewirkt – mache ich einfach ein Foto mit meinem Smartphone. Die KI erkennt dann sofort die Pflanze. Einige Apps setzen auf einen Gamification-Ansatz: Flora Incognita bietet etwa digitale Abzeichen für das Erreichen bestimmter Artenzahlen. Klar, das weckt auch meinen spielerischen Ehrgeiz.
Neben Flora Incognita gibt es viele weitere Bestimmungs-Apps, zum Beispiel PlantNet, PlantSnap oder Flora Helvetica. Nicht nur Pflanzen kann man mithilfe von KI bestimmen, sondern auch Vogelgesänge, zum Beispiel mit dem Forschungsprojekt BirdNET oder mit der App Merlin Bird ID. Es existieren mittlerweile sogar Insektenbestimmungs-Apps, wie Picture Insect oder die App Picture Mushroom, mit der man Pilze einordnen kann.
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Es bringt tatsächlich Spass, herauszufinden, was so in der Umgebung wächst und kriecht und fliegt. Und nicht nur ich bin davon begeistert. Die Nachfrage ist gross, immer mehr Bestimmungs-Apps kommen auf dem Markt. Allein Flora Incognita wurde seit 2018 mehr als fünf Millionen Mal heruntergeladen, täglich gibt es mehr als 300.000 Bestimmungsanfragen.
Ich glaube, meinem damaligen Botanik-Professor würde dieses riesige Interesse an Pflanzenkunde sehr gefallen. Und auch in meinem Umfeld kenne ich mittlerweile viele Menschen, die eben solche Pflanzen- und Tierbestimmungs-Apps nutzen – darunter vor allem Laien.
Vorteile für den Natur- und Umweltschutz
Tatsächlich hat das steigende Interesse an eben diesen Apps auch Vorteile für den Natur- und Umweltschutz. Denn die Artenkenntnis in der Bevölkerung nimmt immer weiter ab. Selbst häufige Säugetier-, Fisch-, Reptilien- und Vogelarten werden von den meisten Menschen nicht mehr erkannt. Besonders schlecht ist es dabei um die Artenkenntnis bei Vögeln bestellt. Auswertungen zeigen, dass gerade jüngere Erwachsene oft nicht einmal die bekanntesten Vogelarten kennen.
Das Problem: Je weniger wir wissen, welche Tiere, Pflanzen und Pilze um uns herum leben, desto weniger ist auch die Bereitschaft der Menschen, sich für Natur- und Umweltschutzbelange einzusetzen. Logisch: Wie sollen Menschen motiviert sein, sich für eine bestimmte heimische Art einzusetzen, wenn sie gar nicht wissen, dass diese überhaupt existiert oder gefährdet ist?
Die KI-gestützten Apps scheinen jedenfalls das Interesse an Tier- und Pflanzenarten zu wecken – das zeigen die hohen Zugriffszahlen. Die KI könnte also für Naturnähe sorgen, gerade weil es auch so niedrigschwellig und spielerisch funktioniert. Interessierte benötigen dafür weder ein Botanik-Studium noch ein verstaubtes Bestimmungsbuch, sondern nur ein Smartphone und eine kostenlose App. Selbst Kinder können also schon Blumen, Gräser, Insekten bestimmen.
Wie Bestimmungs-Apps der Wissenschaft helfen
Für die Forschung bringt das zunehmende Interesse an der Pflanzen- und Tierbestimmung viele Vorteile. Bei Flora Incognita kann man zum Beispiel seine Beobachtungen speichern und der Wissenschaft zur Verfügung stellen. Die Forschenden erhalten damit quasi in Echtzeit einen Überblick über das Pflanzenvorkommen in Deutschland.
Mithilfe der vielen Beobachtungen können die Forschenden sehen, wo welche Pflanzen wachsen, aber zum Beispiel auch, wann welche Pflanzenarten in welchen Regionen blühen. Denn die Pflanzen werden laut Flora Incognita vor allem dann fotografiert, wenn eine Pflanze blüht oder Früchte trägt. Das hilft den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zum Beispiel auch dabei, die Auswirkungen des Klimawandels auf biologische Systeme besser verstehen zu lernen. Auch invasive Arten können so frühzeitig erfasst werden und vieles mehr.
Flora Incognita bietet auch immer wieder kleinere "Citizen Science"-Projekte zur Teilnahme an. Aktuell läuft zum Beispiel ein Mitmach-Projekt zu Schädlingen der Rosskastanie von Forschenden des KIT Karlsruhe und der Universität Göttingen. Dafür sollen Nutzerinnen und Nutzer die Blätter der Rosskastanien in der eigenen Umgebung fotografieren und speichern. So sollen die Ausbreitung von Schädlingen dokumentiert und per KI erkennbar gemacht werden.
Wie KI den Natur- und Klimaschutz unterstützen kann
KI-gestützte Erkennungs-Apps können also nicht nur das Interesse an der Artenvielfalt in der Bevölkerung steigern und das Interesse an der Natur erhöhen, sondern helfen auch der Wissenschaft, gerade im Bereich des Monitorings.
Es gibt viele weitere Möglichkeiten, wie KI-Systeme den Natur- und Klimaschutz unterstützen können. Zum Beispiel kann KI helfen, Starkregen besser vorherzusagen oder heisse Bereiche in Städten zu erkennen.
Mit KI können Experten entscheiden, welche Baumarten gepflanzt werden sollten, um Wälder an den Klimawandel anzupassen. KI-gesteuerte Sensoren können Waldbrände frühzeitig erkennen und dadurch Klimaschäden verringern.
Ausserdem kann KI die Abfallsortierung verbessern, das Recycling von Kunststoffen und Industrieabfällen erhöhen und Industrieprozesse effizienter und umweltfreundlicher gestalten.
Die Kehrseite: KI verbraucht enorm viel Ressourcen und Energie
Aber: KI-Prozesse verbrauchen enorm viel Ressourcen und Energie. Das UN-Umweltprogramm UNEP warnt in einem neuen Bericht, dass die Auswirkungen der KI und der digitalen Transformation auf die Umwelt dringend berücksichtigt werden müssen. Das betreffe etwa den erhöhten Bedarf an seltenen Erden und an Wasserressourcen, um den grossen Bedarf neuer Rechenzentren zu erfüllen.
Auch Praktiken wie das Recycling von Elektroschrott, der Bau energieeffizienter Rechenzentren und ein verantwortungsvoller Umgang mit Ressourcen seien unerlässlich, um die Umweltschäden zu verringern. Kurzum: Die KI muss auch selbst nachhaltig werden.
Trotz dieser Herausforderungen sollte man die Chancen der KI für den Natur- und Umweltschutz nicht übersehen. Allein die Pflanzen- und Tiererkennungs-Apps können vielen Menschen die Natur wieder greifbarer machen, das Wissen über Arten steigern, die Verbundenheit zur Natur stärken. Denn Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben herausgefunden, dass gerade naturverbundene Menschen eher bereit sind, sich für Umweltschutz einzusetzen.
Naturkontakt sorgt dafür, dass mehr Klima- und Umweltschutz stattfindet, dass mehr Naturräume erhalten bleiben, von denen Menschen auch gesundheitlich profitieren können. Daher empfehle ich die Bestimmungs-Apps gerne weiter und freue mich dann immer wieder, dass selbst Freundinnen und Freunde, die sich vorher kaum für Pflanzen interessiert haben, anfangen, Blumen, Sträucher und Bäume zu bestimmen.
Die Macher der App Flora Incognita haben übrigens angekündigt, dass sie nun auch die Gräser-Bestimmung weiter verbessern wollen. Wer weiss, vielleicht werde ich dann doch noch ein Fan von Gräsern.
Verwendete Quellen
- Website Flora Incognita
- Hochschule Weihenstephan-Triesdorf: Studie von HSWT und LBV zeigt: Bayern erkennen immer weniger Vogelarten
- Georg-August-Universität Göttingen: Citizen Science Projekt "Kastaniendetektive - Mit KI auf der Spur von Blattkrankheiten"
- UNEP: A global foresight report on planetary health and human wellbeing
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