In Umfragen landete die Klimakrise in Deutschland nur auf Platz drei der wichtigsten Themen für die Europawahl und bei der Wahl selbst wurden die Grünen auch abgestraft. Ist das nicht erstaunlich? Warum hat die ökologische Idee politisch so wenig Durchschlagskraft? Der Soziologe Nikolaj Schultz hat Erklärungen.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Silke Jäger (RiffReporter) sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfliessen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Die ökologische Doppelkrise ist überall. Artensterben und Erderhitzung sind in unser aller Alltag angekommen. Wassermassen und Wassermangel, Temperaturrekorde und Opferzahlen bestimmen die Nachrichten. Und auch in Deutschland spüren immer mehr Menschen am eigenen Leib, wie sehr ihre pure Existenz mit dem ökologischen Gleichgewicht verknüpft ist.

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Gleichzeitig entfaltet die grösste planetarische Krise politisch nur begrenzte Durchschlagskraft. Das ist überall in Europa so. Grüne Parteien sind zwar in sechs europäischen Regierungen vertreten – Deutschland, Österreich, Finnland, Irland, Belgien und Luxemburg – und bildeten mit 71 Abgeordneten im Europaparlament die viertgrösste Fraktion. Aber bei der gerade absolvierten Europawahl haben die Grünen massiv an Zustimmung verloren. Die ökologische Agenda ist politisch auf dem absteigenden Ast.

Nationalstaaten, etablierte und rechte Parteien versuchen, den Green Deal der EU anzugreifen. Grosse Parteien wenden sich überall in Europa von ökologischen Ideen ab – ganz anders als bei der letzten Europawahl 2019, als die Klimakrise für die meisten Menschen das wichtigste Thema war und die Parteien sich reihenweise auf die Fahnen schrieben, die Natur schützen zu wollen. Damals waren Millionen Menschen in ganz Europa auf den Strassen und kämpften vor allem freitags für ihre Zukunft.

Inzwischen halten mehr Menschen Migration und Kriege für wichtiger – und scheinen nicht zu sehen, dass diese Themen direkt mit den ökologischen Krisen zusammenhängen. Wie passt das zusammen? Warum lassen sich Menschen nicht durch eine politische Idee begeistern, die das Überleben auf der Erde sicherstellen will? Diese Fragen beschäftigen den Soziologen Nikolaj Schultz schon länger.

Seine Arbeit und die seines 2023 verstorbenen Mentors, des Soziologen Bruno Latour, kommt zu dem Ergebnis, dass den ökologischen Bewegungen noch etwas Entscheidendes fehlt: Klassenbewusstsein. Drei Aspekte sind für diesen Befund besonders entscheidend:

1. Ein starkes Wir

Die meisten Menschen gehen davon aus, dass es in aller Interesse liegt, die Natur zu bewahren. Schliesslich versteht jede und jeder, dass ohne intakte Lebensräume auch menschliches Leben nicht möglich ist. Folglich müsste der Wunsch, das eigene Überleben zu sichern, schon ausreichen, um der grünen Agenda politischen Erfolg zu bescheren. Doch das ist ein Irrglaube, sagt Nikolaj Schultz.

Im Gegenteil: Wir sehen jeden Tag, dass über Natur und Ökologie sehr viel gestritten wird. Verbrenner-Aus, Verkehrswende, Fleischverzicht, Wärmepumpe – alles wird hoch emotional diskutiert. Die Massen vereinigen sich nicht hinter den Appellen, klimafreundlicher zu leben und Natur zu schützen. Stattdessen eskalieren die Grabenkämpfe. Das frustriert viele, die sich in Klima- und Naturschutzbewegungen engagieren. Mit steigendem politischen Gegenwind sinken die Hoffnungen, dass sich grüne Ideen am Ende durchsetzen könnten.

Nikolaj Schultz empfiehlt, diese Auseinandersetzungen nicht als Zeichen von Misserfolg zu sehen, sondern als notwendig zu akzeptieren – besser noch: sie zu begrüssen. Die ökologischen Fragen seien keine Friedensprojekte. "Darin liegt aber ihr grösstes übersehenes Potenzial. Konflikte sind viel stärker in der Lage, deutlich mehr Menschen zu mobilisieren als Einigkeit," sagt Schultz dazu. Dafür sei es aber zwingend erforderlich, ein starkes Wir zu definieren. Das sei den unterschiedlichen ökologischen Bewegungen bisher nicht ausreichend gelungen.

Richtig. Das zeigen zum Beispiel die Kontroversen darüber, ob es möglich ist, grünes Wirtschaftswachstum in Aussicht zu stellen, wo die meisten Expertinnen und Experten doch davon ausgehen, dass eine vollständige Entkopplung von CO2-Ausstoss und ökonomischem Wachstum nicht realistisch ist.

Soziologie, Politik, Klimakrise
Nikolaj Schultz bei der Litcologne in Köln am 14. März. © picture alliance/Panama Pictures/Christoph Hardt

Diese Konfliktlinien entzweien die grünen Bewegungen. Auch streitet man sich darum, wie protestiert werden sollte. Das sei legitim und an sich nicht das Problem, solange es eine übergeordnete Erzählung dessen gibt, was Grünsein politisch bedeutet, meint Nikolaj Schultz: "Wenn wir uns mehr Einigkeit in ökologischen Bewegungen wünschen, braucht es eine klare Konfliktlinie zwischen dem Wir und den Anderen. Dazu gehört ein Narrativ, das in der Lage ist, Menschen zu mobilisieren, damit sie für die Sache streiten."

2. Ein leidenschaftliches Narrativ

Frieden, eine intakte Natur, zufriedene Menschen. Das alles sind hervorragende Ziele.

Aber: Überzeugende Ziele allein sind noch keine mitreissende politische Erzählung. Wer glaubt, dass diejenigen, die bisher politisch mächtig waren, ihre Macht einfach so an diejenigen übergeben, die die ethisch korrekteren Interessen haben, sieht sich spätestens jetzt getäuscht. Denn allein mit diesen als moralisch überlegen präsentierten Interessen können sich die meisten Menschen nicht ausreichend identifizieren.

Es brauche menschliche Affekte, um objektiv ethisch und intellektuell Richtiges zu einer Ideologie zu machen, für die es sich zu kämpfen lohnt. Es braucht Leidenschaft. Davon ist Nikolaj Schultz überzeugt.

Bisher sei diese Leidenschaft eher eine traurige. Stimmt. Sie handelt von Abschiedsschmerz, Schuld und Versagen. Nichts, das man gerne im Chor singt oder auf Fahnen schreibt.

Die Geschichte der politischen Bewegungen zeige, dass es Klassenkämpfe brauchte, um politische Ideen zum Erfolg zu verhelfen, erklärt der Soziologe. Wenn es eine erfolgreiche ökologische politische Klasse geben solle, dann brauche diese zusätzlich zu einem klar definierten Wir eine passende übergeordnete Erzählung, ein Narrativ. Eins, das sie mit Begeisterung verinnerlicht und nach aussen vertritt.

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Bisher gleiche das grüne Narrativ in grossen Teilen seinen hehren Zielen. Doch die Hoffnung auf eine friedliche grüne Revolution, die seit ungefähr 40 Jahren bemüht wird, habe sich so nicht erfüllt. Nikolaj Schultz meint, die Gründe dafür zu kennen: "Das ist zu langweilig. Und Dauerpanik ermüdet."

Politische Auseinandersetzungen seien immer schon ein Schlachtfeld gewesen und wer im Klassenkampf erfolgreich sein will, brauche einen funkensprühenden Schlachtruf.

Im Moment changiere das grüne Narrativ zwischen Verzicht und Vernunft, Notwendigkeit und Rückzug – alles Begriffe, die keine innere Flamme entfachen. Dabei könne sich die ökologische Klasse aus einer Fülle von Narrativen bedienen, die bereits gezeigt hätten, was sie in Bewegung setzen können.

Dazu gehörten Begriffe wie Freiheit, Wohlstand, Gerechtigkeit, Emanzipation, zählt Nikolaj Schultz auf. Aber: Sie seien alle schon besetzt, etwa von liberalen, konservativen, sozialdemokratischen und feministischen Bewegungen. Die ökologische Klasse könne diese Begriffe nutzen, wenn sie es schaffe, sie umzudeuten.

Mit einem gemeinsamen Narrativ könne die ökologische Idee sogar parteiübergreifend anschlussfähig sein.

3. Kulturkampf für mehr politische Macht

Nikolaj Schultz erklärt, dass die Geschichte zeige: Politischen Auseinandersetzungen gingen immer kulturelle voraus, politische Bewegungen wurden nie automatisch erfolgreich. Die Menschen wollten fühlen und spüren, dass sich ihr Einsatz lohne, dass sie für das Richtige viel riskieren. Man sollte meinen, das ergebe sich aus der Sache und benötige nicht viel Vorbereitung. Aber der Kulturkampf diene auch der Vorbereitung auf die politischen Machtkämpfe.

Wir wissen es bereits: Die kulturellen Konfliktlinien zu Klima- und Naturschutz verlaufen quer über Küchentische und verwandeln Nachbarn in Gegenspieler. Grüne Bewegungen haben die daraus entstehenden Dynamiken zu lange ignoriert. Vielleicht kein Wunder, denn es geht um die Grundlagen unseres Wohlstands. Er ist ohne Produktion von Dingen nicht denkbar.

Produktion und die damit verbundenen Kreisläufe versprechen uns seit über 200 Jahren Wohlstand. Doch genau dasselbe Versprechen gefährdet nun die natürlichen Kreisläufe, die es braucht, um Dinge überhaupt produzieren zu können. Die materielle Grundlage von Gesellschaften fällt gerade in sich zusammen. Es braucht ein neues Verständnis von Produktionskreisläufen, das von den natürlichen Kreisläufen ausgeht.

Das ist das Kernthema des ökologischen Kulturkampfes. Und wir sehen, dass es bereits aufgenommen wird. Einzelne Gruppen werden dafür jedoch mitunter kriminalisiert, wie zum Beispiel die "Letzte Generation". Die unterschiedlichen Protestformen verschiedener Strömungen innerhalb einer Bewegung müssten kein Zeichen von innerer Zerrissenheit sein, betont der Soziologe.

Auch in vergangenen Klassenkämpfen habe es Streit zwischen Gruppen gegeben. Für einen erfolgreichen Kulturkampf seien andere Dinge entscheidender als Konsens auf allen Ebenen. Zum Beispiel eine eigene Ästhetik. Damit meint Nikolaj Schultz nicht nur künstlerische Ausdrucksformen. Sei es in der bildenden Kunst, in der Malerei, in der Literatur, in der Musik, im Theater oder im Film – überall ringen Künstlerinnen und Künstler darum, wie sie die Doppelkrise thematisieren können.

Ästhetik ist aber mehr als Kunst. Sie könne zum Beispiel auch durch Symbole, Lieder oder Kleidung wirken. Das zeige sich etwa am Beispiel der Gelbwesten in Frankreich. Dazuzugehören, war einfach, wenn man eine gelbe Warnweste anhatte.

Dass es solche Symbole in der ökologischen Bewegung nicht im Handumdrehen auf eine alles verbindende Ebene schaffen, liegt vielleicht auch in der Natur dieser Krise. Ja, sie passiert in Zeitlupe, bleibt lange abstrakt, erfordert viel intellektuelle Arbeit und lässt kaum Spielräume da, wo sie konkret wird.

Wenn Häuser unter Wasser stehen, muss man schnell handeln. Meistens geht dann nur noch Schadensbegrenzung. Die emotionale kollektive Verarbeitung funktioniert selbst dann schlecht, wenn viele Menschen die gleiche Erfahrung machen: Dürren, Überschwemmungen, Hitzewellen – alles bleibt seltsam blutleer, obwohl so viele darunter leiden.

Zeit für grünes Klassenbewusstsein

Das Zögern in der Klimakrise hat Ursachen. Es ist entscheidend, diese Ursachen zu ergründen – besser heute als morgen. Das Zögern hat aber nicht nur mit diesen drei Aspekten zu tun, sondern auch mit tonnenweise individuellem Schmerz, den die meisten Menschen mehr oder weniger erfolgreich verdrängen. Das führt zu einer Art Lähmung: zu Ratlosigkeit und Mutlosigkeit.

Schultz sagt dazu: "Eigentlich fehlt die Zeit dafür, sich um ein starkes Wir, ein leidenschaftliches Narrativ und den Kulturkampf jetzt zu kümmern. Aber Bruno Latour meinte, dass man sich gerade dann Zeit nehmen muss, wenn sie fehlt." Die Arbeit an einem ökologischen Klassenbewusstsein hält auch er für unverzichtbar.

Nikolaj Schultz meint, dass die Klimakrise eine neue Sensibilität für die eigene Beziehung zur Natur und allen anderen Lebewesen erzeugt. Diese Sensibilität könnte für die Arbeit an leidenschaftlichen Schlachtrufen, fesselnden Narrativen und entschlossenem Kampfgeist wichtig sein. Zumindest dann, wenn Einigkeit darüber besteht, dass es sich beim Kampf ums Überleben auch um einen Klassenkampf handelt – dem eine Ideologie zugrunde liegt, auf die man stolz ist und die man mit Stolz vertritt.

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Über den Gesprächspartner

  • Nikolaj Schultz, Jahrgang 1990, ist ein dänischer Soziologe, der an der Universität Kopenhagen forscht. 2022 erschien sein Buch "Zur Entstehung einer ökologischen Klasse", das er zusammen mit seinem Mentor, dem Soziologen Bruno Latour veröffentlichte. Anfang 2024 legte Nikolaj Schultz den Essay "Landkrank" vor, in dem er beschreibt, wie sehr die Klimakrise jeden Einzelnen von uns infrage stellt. Das Grundannahme des Essays: Das Problem bin ich!

Verwendete Quellen

  © RiffReporter

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