Medien würden "Klimaschwindel" betreiben, heisst es in sozialen Netzwerken, weil sie über mehrere Länder und Kontinente berichten, die sich alle schneller erwärmen als der Rest der Welt. Doch dahinter steckt kein Schwindel, wie dieser Faktencheck zeigt.

"Überall wird es am Heissesten…bei euch auch?", kommentiert ein Nutzer Ende Juni 2024 auf Instagram ein Video. Darin sind dutzende Schlagzeilen aus Medienberichten zu sehen, denen zufolge sich mehrere Länder und Kontinente schneller als der Rest der Welt erwärmen – mal ist von Kanada oder Schweden, mal von Asien, Europa oder Lateinamerika die Rede.

Für den Instagram-Nutzer ein klares Zeichen, dass hier etwas nicht stimmt: Das sei ein "Klimaschwindel-Wettrennen", schreibt er. Auch auf Telegram und X verbreitet sich das Video. "Liebe Klimajünger, welches Land isses denn nu?", fragt eine X-Nutzerin, deren Beitrag tausendfach geteilt wurde.

Doch auch wenn die Schlagzeilen auf den ersten Blick widersprüchlich wirken, sind sie das nicht.

Screenshot Instagram-Video, Klimaschwindel
Dieses Instagram-Video verbreitete sich im Juni 2024 auch tausendfach auf X und Telegram. © Quelle: Instagram; Screenshot und Schwärzung: CORRECTIV.Faktencheck

Artikel über Erwärmung beruhen auf Studien und Klimaberichten

In dem Video tauchen insgesamt 13 Schlagzeilen auf. Eine Google-Suche zeigt, dass sie zu echten Artikeln gehören und nach wie vor online sind. Nicht bei allen handelt es sich um klassische Medienberichte – drei stammen von Webseiten für Wettervorhersagen (Meteored, Wetter.de und The Weather Channel), einer von der Energieagentur Rheinland-Pfalz. Zwar sind alle Schlagzeilen auf Deutsch eingeblendet, doch in neun Fällen handelt es sich um Berichte, die im Original in einer anderen Sprache verfasst wurden.

Die Artikel erschienen zwischen 2015 und 2024. Alle beziehen sich entweder auf wissenschaftliche Studien (Schweden, Finnland), Klimaberichte oder Einschätzungen staatlicher Behörden (Kanada, Mexiko, USA, Australien, Russland, China, Deutschland) oder anderer Institutionen, wie etwa der Weltorganisation für Meteorologie (WMO) (Asien, Lateinamerika und Karibik, Afrika und Europa).

Der "Rest der Welt" bezieht sich auf Durchschnittstemperaturen der Land- und Meeresflächen

Gemein ist allen Artikeln und ihren Quellen, dass sie mit dem "Rest der Welt" nicht nur Länder und Kontinente meinen, sondern auch die Meere. Meere machen etwa 71 Prozent der Erdoberfläche aus. Der Vergleich in den Artikeln bezieht sich auf die Veränderung der globalen Durchschnittstemperatur und diese wird sowohl in der Luft über Land als auch im Wasser der oberen Meeresschicht gemessen. Der Temperaturanstieg an Land und im Meer unterscheidet sich aber. Deshalb sind die Schlagzeilen der Artikel nicht widersprüchlich und belegen auch keinen "Klimaschwindel".

Warum es diese Unterschiede im Temperaturanstieg gibt, haben uns Dirk Notz, Klimawissenschaftler an der Universität Hamburg, und Sunke Schmidtko, Forscher am Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel, auf Anfrage erklärt.

Schmidtko schreibt uns: Der Ozean nehme zwar die meiste Wärme auf – mehr als 90 Prozent der zusätzlichen Wärmeenergie, die durch den Klimawandel entsteht – und dennoch sei die Temperatur gemässigter als an Land. Das liege daran, dass Wasser eine viermal höhere Wärmekapazität als Land habe, schreibt uns Notz. Die Wärmekapazität gibt an, wie viel Energie nötig ist, um einen Stoff zu erwärmen. Schmidtko veranschaulicht das an einem Beispiel: "Wenn man Zuhause einen Fön anschaltet, ist die Luft in der nächsten Sekunde heiss. Wenn wir aber in der Küche einen Liter Wasser kochen, dauert es Ewigkeiten. Wasser schluckt sehr viel Wärme, ehe es heiss ist."

Zusätzlich werde das Wasser, das sich an der Oberfläche erwärmt, laut beiden Experten etwa durch Wind mit tieferen, kälteren Wassermassen vermischt. "In Kombination dieser beiden Effekte braucht man etwa 100-mal so viel Energie, um die Temperatur der gut durchmischten oberen 100 Meter des Ozeans zu erwärmen, im Vergleich zu der Erwärmung der obersten paar Meter an Land", schreibt uns Notz.

Temperaturen an Land höher als an Meeresoberfläche

Das zeigen auch Daten der Nasa: 2023 war es über den Landflächen durchschnittlich 1,71 Grad Celsius wärmer als im Zeitraum von 1951 bis 1980. An der Meeresoberfläche dagegen war es durchschnittlich halb so viel wärmer, konkret 0,85 Grad Celsius. Der Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur lag laut Nasa 2023 bei 1,17 Grad Celsius, verglichen mit dem Zeitraum zwischen 1951 und 1980. Bei den Werten handelt es sich um Temperaturanomalien, also Abweichungen von einem langjährigen Temperatur-Durchschnitt.

Es ist daher – anders als das Video in sozialen Netzwerken suggeriert – nicht widersprüchlich, dass sich mehrere Länder und Kontinente schneller als der "Rest der Welt" erwärmen. "Die meisten Landgebiete haben sich schneller erwärmt als der globale Durchschnitt und sehr wahrscheinlich um mindestens 0,1 Grad Celsius pro Jahrzehnt seit 1960", schreibt der Weltklimarat (IPCC) in seinem Sachstandsbericht von 2021.

In einigen Artikeln, die das Video zeigt, wird dieser Umstand erwähnt. So heisst es etwa in dem Bericht von National Geographic von 2022 (letzter Artikel im Video): Deutschland liege mit einer Erwärmung von 1,6 Grad Celsius im Vergleich zur vorindustriellen Zeit weit über dem globalen Mittel von 1,1 Grad Celsius im selben Zeitraum. "Eine Erklärung dafür ist, dass sich Landregionen wie Deutschland generell schneller erwärmen als Meeresregionen." Im Artikel von Newsweek von 2022 (neunter Artikel im Video) erklärt ein Experte zu Russland: "​​Das Land erwärmt sich aufgrund der unterschiedlichen Wärmekapazität schneller als der Ozean."

Nordhalbkugel erwärmt sich zusätzlich schneller als Südhalbkugel

Doch nicht nur zwischen Land und Meer, sondern auch zwischen einzelnen Regionen, Ländern und Kontinenten gibt es Unterschiede bei der Erwärmung. Laut dem IPCC haben sich viele Regionen seit den 1980er-Jahren stärker erwärmt, hierzu gehören beispielsweise Australien, Mittelamerika und Teile Afrikas (0,2 bis 0,3 Grad Celsius pro Jahrzehnt) sowie die Arabische Halbinsel, Europa und Teile Asiens (0,3 bis 0,5 Grad Celsius pro Jahrzehnt). Am schnellsten ist die Erwärmung in arktischen und arktis-nahen Landregionen (bis zu 1 Grad Celsius pro Jahrzehnt, teilweise mehr).

Wie unterschiedlich sich einzelne Regionen der Welt erwärmt haben, zeigen Karten der Nasa. Verglichen wurden hierfür die durchschnittlichen Temperaturen des Zeitraums 1991 bis 2020 mit denen von 1961 bis 1990. Die Regionen auf der Nordhalbkugel haben sich stärker erwärmt als die Regionen auf der Südhalbkugel, wobei Gebiete rund um die Arktis am stärksten von der Erwärmung betroffen sind.

© Quelle: Nasa; Screenshot und Collage: CORRECTIV.Faktencheck
Wie diese Karten der Nasa zeigen, erwärmt sich die Nordhalbkugel um die Arktis stärker als die Südhalbkugel um die Antarktis. © Quelle: Nasa; Screenshot und Collage: CORRECTIV.Faktencheck

Dirk Notz schreibt uns, der Hauptgrund dafür sei, dass auf der Nordhalbkugel mehr Landmassen sind. Auch der IPCC nennt dies als Grund. Dass sich die Arktis am schnellsten erwärmt, liegt laut IPCC an der sogenannten arktischen Verstärkung: Die globale Erwärmung bringt Meereis und Schnee, die die Sonnenstrahlung sonst reflektieren, zum Schmelzen. Die dadurch freigelegten Meeres- und Landflächen nehmen dagegen die Sonnenstrahlung und somit mehr Wärme auf.

Dass dieser Effekt für eine zusätzliche Erwärmung sorgt, wird auch in mehreren Artikeln hinter den Schlagzeilen erwähnt, zum Beispiel im Fall der Berichte zu Kanada, Russland oder Finnland. Aus den Quellen der Artikel geht zudem hervor, dass dieser Effekt auch für die schnellere Erwärmung in den USA, Schweden, Asien, Europa mitverantwortlich ist.

Europa erwärmt sich von allen Kontinenten am schnellsten

Zurück zu den Schlagzeilen aus dem Video: Die meisten von ihnen geben an, dass ein bestimmtes Land oder ein Kontinent sich "schneller als der Rest der Welt" oder "schneller als der globale Durchschnitt" erwärmen. Nur eine Schlagzeile weicht davon ab, sie lautet: "EU-Klimabericht: Europa erwärmt sich am schnellsten."

Sie stammt aus einer Meldung der Energieagentur Rheinland-Pfalz vom April 2024. Quelle des Artikels ist der Bericht "Zustand des europäischen Klimas 2023" des EU-Klimadienstes Copernicus und der Weltorganisation für Meteorologie. Darin steht: "Seit den 1980er-Jahren hat sich Europa doppelt so schnell erwärmt wie der globale Durchschnitt und ist damit der Kontinent mit der schnellsten Erwärmung auf der Erde." Ursache dafür seien unter anderem der Anteil der europäischen Landfläche in der Arktis und Veränderungen der atmosphärischen Zirkulation, die häufigere Hitzewellen begünstigen.

Fazit: Die Medienberichte belegen keinen "Klimaschwindel". Sie geben Studien, Klimaberichte oder Einschätzungen staatlicher und anderer Institutionen zum Temperaturanstieg bestimmter Länder oder Kontinente verglichen mit der Welt als Ganzes richtig wieder. Alle Kontinente und die meisten Länder haben sich schneller erwärmt als der globale Durchschnitt. Grund dafür: Die globale Durchschnittstemperatur wird über Land- und an der Meeresoberfläche gemessen. Landregionen erwärmen sich schneller als Meeresregionen, was hauptsächlich an der höheren Wärmekapazität des Wassers liegt. Kontinente und Länder auf der Nordhalbkugel erwärmen sich schneller als auf der Südhalbkugel. Die Arktis und Landregionen in ihrer Nähe erwärmen sich am schnellsten.

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Verwendete Quellen

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