Nur durch einen Zufall ist das älteste und längste Dokument auf Etruskisch erhalten geblieben: Mit ihm wurde eine ägyptische Mumie eingewickelt. Warum das allerdings passiert ist und was der Text in der vergessenen Sprache genau aussagt, bleibt bis heute rätselhaft.
Die weibliche Mumie war mit Leinenstreifen umwickelt, auf denen ein religiöser Text in einer vergessenen Sprache notiert ist: Das ist nicht das einzige Rätsel, das das uralte Dokument "Liber Linteus Zagrabiensis" umgibt.
Denn es wurde um das Jahr 250 vor unserer Zeitrechnung auf dem Gebiet des heutigen Italien verfasst. Aber wie kommt es dann zu einer Mumie in Ägypten? Und was steht eigentlich in dem Text?
Diese Fragen bereiten Wissenschaftlern seit dem 19. Jahrhundert Kopfzerbrechen. Aufklären konnten sie das Mysterium nur teilweise.
Ungewöhnliche Zweckentfremdung als Leichentuch
Das "Liber Linteus Zagrabiensis" enthält 1.200 lesbare Wörter, von denen viele wiederholt werden. Die roten und schwarzen Buchstaben stehen auf einem 3,40 Meter langen Leinenstreifen, der später in acht Teile zerrissen wurde.
Daher kommt auch der Name: "Liber Linteus" ist Latein und bedeutet "leinenes Buch".
Das "Zagrabiensis" bezeichnet den heutigen Aufbewahrungsort, Zagreb in Kroatien. Der Text ist in zwölf Spalten unterteilt, von denen jede 24 Zentimeter breit ist. Das Tuch war offenbar so gefaltet, dass jede Spalte eine eigene Seite bildete.
Dass das Leinenbuch mehr als 2.000 Jahre überstanden hat, liegt an seiner ungewöhnlichen Zweckentfremdung. Das Tuch ist nicht zerfallen, weil es als Mumienbandage benutzt und damit konserviert wurde.
Das "Liber Linteus Zagrabiensis" wird deshalb auch "Agramer Mumienbinde" genannt - Agram ist der alte deutsche Name von Zagreb.
Von Alexandria in ein Wiener Wohnzimmer
Erstmals erwähnt wurde die einbalsamierte Leiche der Frau im 19. Jahrhundert. Der Wiener Hofbeamte Michael von Barich kaufte die Mumie um das Jahr 1850 im ägyptischen Alexandria und brachte sie mitsamt ihrem Sarkophag als Souvenir mit nach Hause. Wo sie sich vorher befand, ist unklar.
Dort stellte er sie aufrecht in seinem Wohnzimmer aus. Irgendwann entfernte der Beamte die Leintücher und legte sie in eine Glasvitrine.
Nach seinem Tod vermachte von Barich Mumie und Bandagen seinem Bruder, der sie später dem Archäologischen Museum in Zagreb schenkte.
Fünf der acht Streifen sind erhalten, der Rest ist verschollen. Wahrscheinlich handelt es sich bei dem vorhandenen Text um das Ende des Dokuments, denn eines der Tücher endet mit einer leeren Fläche.
Ägyptologen und Sprachexperten interessierten sich seit dem Umzug ins Museum für die Mumie und den mysteriösen Text. Zunächst nahmen sie an, dass es sich bei der Sprache um ägyptische Hieroglyphen handelte.
Später gingen andere Experten davon aus, dass es sich um einen Auszug aus dem ägyptischen Totenbuch handelte, der ins Arabische übersetzt wurde.
Der Forscher Jakob Krall hielt die Schrift zunächst für Koptisch oder Lybisch. Doch 1891 setzte er die Streifen richtig zusammen und ordnete die Sprache korrekt als Etruskisch ein.
Entschlüsseln konnte er den Inhalt allerdings nicht – ebenso wenig wie andere Sprachforscher nach ihm. Denn Etruskisch kann bis heute nicht übersetzt werden, nur wenige Dokumente mit Texten sind erhalten geblieben.
Religiöser Text mit rituellem Charakter
Wovon das "Liber Linteus Zagrabiensis" handelt, bietet deshalb Anlass für viele Spekulationen. Nur einzelne Wörter sind verständlich, etwa die Namen von Göttern.
Wahrscheinlich ist es ein religiöser Text mit rituellem Charakter – dafür sprechen die vielen Wortwiederholungen.
Manche Experten glaubten, dass auf den Leinenstreifen Bestattungszeremonien beschrieben wurden - immerhin wurden sie ja zur Einbalsamierung verwendet. Dagegen sprechen aber Datumsangaben in dem Text.
Wahrscheinlicher ist, dass das Buch eine Art Kalender ist, der religiöse Zeremonien für jeden Tag erklärt.
Wo das Dokument entstand, lässt sich aus den erwähnten Namen entschlüsseln: Diese Götter spielten vor allem in einer Region in der heutigen Südtoskana eine Rolle, in der Umgebung der ehemals etruskischen Städte Arezzo, Perugia, Chiusi und Cortona.
Wie hängen Mumie und Text zusammen?
Aber was hat eine ägyptische Mumie mit den Etruskern zu tun, die zwischen 800 und 100 vor unserer Zeitrechnung vor allem im heutigen Mittelitalien lebten?
Wieso wickelten die Einbalsamierer ausgerechnet diese Frau mit dem religiösen Text ein? Manche Forscher spekulierten, dass es sich um eine reiche Etruskerin handelte, die nach Ägypten geflohen war, als die Römer das Land eroberten.
In Ägypten war es zu der Zeit üblich, die Toten vor dem Begräbnis einzubalsamieren. Vielleicht wurde das etruskische Dokument benutzt, um an ihre Herkunft zu erinnern?
Gegen diese Theorie spricht allerdings eine Papyrusrolle, die zusammen mit der Mumie begraben wurde.
Es enthüllt mutmasslich die Identität der Toten: Nesi-hensu war die Frau eines Schneiders aus Theben mit dem Namen Paher-hensu – also eine Ägypterin und keine Etruskerin.
Woran sie starb und wie sie lebte, bleibt bis heute aber ein Mysterium.
Wahrscheinlich haben Mumie und Text also überhaupt nichts miteinander zu tun. Wissenschaftler gehen heute davon aus, dass die Einbalsamierer gerade kein anderes Material zur Verfügung hatten.
So ist vielleicht durch einen blossen Zufall das älteste und längste Dokument in etruskischer Sprache erhalten geblieben. Wie es aber von Italien nach Ägypten gelangt ist, wird weiterhin ein Rätsel bleiben.
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