2003 überfiel der Pizzabote Brian Wells in den USA eine Bank, bewaffnet mit einer Schrotflinte - und einer Bombe, die an einer übergrossen Handschelle um seinen Hals hing. Wells wurde kurz nach dem Überfall von der Polizei gestellt, die Bombe explodierte, Wells starb. Kurz vor seinem Tod sagte er, er sei zu dem Überfall gezwungen worden. Wer steckte hinter dem perfiden Plan?
Es war einer der mysteriösesten Kriminalfälle der jüngeren Geschichte. So mysteriös und bemerkenswert, dass Netflix eine Mini-Serie namens "Evil Genius" daraus machte, die vor kurzem veröffentlicht wurde.
Alles begann mit einem Banküberfall am 28. August 2003. Der Bankräuber war Brian Wells, ein Pizzabote aus der Stadt im US-Bundesstaat Pennsylvania. Es gibt Bilder von dem Überfall, sie zeigen einen Mann Mitte Vierzig, mit einem Spazierstock in der Hand und einem übergrossen T-Shirt mit der Aufschrift "Guess" (deutsch: Rate mal), unter dem offensichtlich etwas verborgen war.
Der Mann übergab einer Bankangestellten einen Zettel mit der Anweisung, ihm binnen 15 Minuten 250.000 US-Dollar zu übergeben, sonst würde eine Bombe explodieren. Jene Bombe, die Wells unter seinem T-Shirt trug, befestigt an einer übergrossen Handschelle, die ihm um den Hals hing. Da das Geld in der kurzen Zeit nicht zu beschaffen war, verliess Wells die Bank nur mit rund 8.000 US-Dollar.
Er wurde wenig später von Polizisten gestellt und erklärte ihnen mit ruhiger Stimme, dass er von Afro-Amerikanern überfallen worden sei und sie ihm die Bombe umgehängt hätten. Es wurde Verstärkung gerufen, doch die Sprengstoffspezialisten kamen zu spät. Die Bombe explodierte und tötete Wells.
Netflix-Serie stellt Frau in den Mittelpunkt
Für ihre vierteilige Mini-Serie sichteten die Produzenten Barbara Schroeder und Trey Borzillieri zahlreiche Archiv-Aufnahmen von Zeugenaussagen, Beweisstücken und Hausdurchsuchungen. Sie befragten die leitenden Ermittler in dem Fall sowie zahlreiche Verdächtige und deren Bekannte und Freunde.
In den Mittelpunkt ihrer Serie stellten sie Marjorie Diehl-Armstrong, eine psychisch kranke Frau, die zum Zeitpunkt der Aufnahmen zum zweiten Mal wegen Tötung aus Notwehr im Gefängnis sass.
Co-Produzent Borzillieri hatte über die Jahre Briefkontakt zu Diehl-Armstrong aufgebaut und ihr Vertrauen gewonnen. Sie sah in ihrem Kontakt offenbar eine Art Freundschaft.
Anhand der Briefe und von Zeugenaussagen entwickelten die Serienmacher ein Profil der Frau: hochintelligent, aber auch manipulativ und gefährlich.
Diehl-Armstrong gerät in Fokus der Ermittler
In den Fokus der Ermittler im Wells-Fall geriet sie, als ihr langjähriger Freund Bill Rothstein, ein Handwerker und Aushilfslehrer, etwa zwei Jahre nach dem Banküberfall die Polizei anrief und sagte, er bewahre in einer Tiefkühltruhe die Leiche eines Ex-Freundes von Marjorie auf.
Zur Begründung, warum er das tue, sagte er, das sei eine Art Freundschaftsdienst. Er wisse auch nicht, wie der Mann zu Tode gekommen sei.
Laut der Aussagen in "Evil Genius" waren Diehl-Armstrong und Rothstein eine Zeit lang verlobt. Sie habe die Beziehung beendet. Das habe Rothstein sehr getroffen, er sei von der Frau extrem fasziniert gewesen und habe sie vor allem wegen ihrer Intelligenz geschätzt, sagte einer seiner engsten Freunde.
Aufgrund von Rothsteins Zeugenaussage wurde Diehl-Armstrong festgenommen und schliesslich wegen Tötung in Notwehr verurteilt. Bei ihrer Festnahme schimpfte sie auf Rothstein: Er sei ein Lügner, und solle wegen Mordes an Brian Wells angeklagt werden.
Diehl-Armstrong packt aus
Von den Strafverfolgungsbehörden wurde Rothstein aber zunächst entlastet. Einer der Ermittler sagte zwar, ihn habe von Anfang an gewundert, dass der Ort, an den der Pizzabote gerufen und wo ihm die Bombe umgeschnallt wurde, so nah an Rothsteins Haus war. Beweise gegen ihn gab es aber nicht.
Rothstein starb im Jahr 2004 an Krebs. Ein Jahr später kündigte Diehl-Armstrong dann an, Details zu dem Fall verraten zu wollen. Als Gegenleistung wollte sie einen guten Anwalt und eine Verlegung in ein anderes Gefängnis.
Sie sagte, Rothstein habe den Überfall geplant, und der Bankräuber Wells sei nicht Opfer, sondern Mitverschwörer gewesen.
Rothsteins Charakterbeschreibung in der Serie ähnelt in gewisser Weise der seiner Ex-Verlobten. Auch er soll intelligent und manipulativ gewesen sein. Immer wieder wird gesagt, dass er gedacht habe, er könne jeden überlisten.
Den Banküberfall zu planen, erforderte in jedem Fall einigen Scharfsinn. Denn Brian Wells wurde nicht nur in die Bank geschickt, es wurde für ihn eine Art Schnitzeljagd konzipiert, an deren Ende er angeblich die Schlüssel finden sollte, mit denen er sich von der Bombe befreien könnte. Aber nur, wenn er den Parcours in einer bestimmten Zeit schaffte.
Schnitzeljagd um Leben und Tod
Die Anweisungen waren auf Zettel notiert, die Schrift war durchgepauste Schreibmaschinenschrift, also keiner Person zuzuordnen. Allerdings befanden sich auf ihrer Rückseite durchgedrückte handschriftliche Passagen von anderen Zetteln. Rothsteins enger Freund sagt in "Evil Genius", er erkenne die Handschrift. Es sei Rothsteins.
Wozu der komplizierte Plan dienen sollte, ist nicht klar. Klar ist aber wohl, dass Wells sich nie hätte von der Bombe befreien können. Die Ermittler fuhren die Schnitzeljagd-Stationen ab und stellten fest, dass er sie in der festgelegten Zeit nicht hätte absolvieren können.
Wells wird von allen Befragten als nett und von seiner Vermieterin als "ein wenig kindlich" beschrieben. Die Serienmacher finden es offenbar schwer vorstellbar, dass er, wie Diehl-Armstrong behauptete, an Planung und Durchführung des Überfalles beteiligt war.
Welche Rolle spielte Wells?
Sie stellen die These auf, dass die Verschwörer mit ihrer Aussage, dass Wells nicht Opfer, sondern Mittäter gewesen sei, die Todesstrafe vermeiden wollten. Die hätte ihnen laut Rechtsexperten gedroht, wenn er nicht als Teil der Verschwörung angesehen worden wäre.
Untermauert wird ihre These durch eine enge Bekannte von Wells. Eine Prostituierte, die dem Co-Produzenten Trey Borzillieri nach langem Zögern etwas über den Fall erzählte.
Sie sagte, sie habe Wells an die Verschwörergruppe herangeführt, die jemandem gesucht habe, der "leicht zu beeinflussen" sei.
Dass er an einem Vorbereitungstreffen am Vortag des Überfalls und damit an der Verschwörung direkt beteiligt gewesen ist, glaubt sie nicht. Er sei bei ihr gewesen, anschliessend kurz nach Hause und dann zur Arbeit gefahren.
Allerdings erwähnte einer der Ermittler in der Serie einen Zeugen, der Wells am fraglichen Tag von Diehl-Armstrongs Haus wegfahren gesehen haben will.
Diehl-Armstrong verurteilt, Rolle von Wells aber weiter unklar
Wer aber war nun der oder die Drahtzieher/in hinter dem Verbrechen? Diehl-Armstrong sagte, es war Rothstein.
Seine Komplizen seien Kenneth Barnes, ein drogensüchtiger Angelkumpel von Diehl-Armstrong, und Floyd Stockton, ein Mitbewohner Rothsteins, gewesen.
Eine eigene Beteiligung an der Verschwörung stritt Diehl-Armstrong ab. Gegenüber Mitgefangenen soll sie aber mit Details zu dem Fall geprahlt haben, für eine Anklage reichte das aber zunächst nicht aus - und sie selbst blieb bis zu ihrem Tod im Jahr 2017 bei ihrer Version der Geschichte.
Verurteilt wurde sie am Ende trotzdem. Denn im Jahr 2005 sagte ihr Angelfreund Kenneth Barnes gegen sie aus und behauptete, Diehl-Armstrong sei der Kopf der Operation gewesen.
Er beschrieb, wie sie alles plante und wie sie sich am Tag vor dem Banküberfall noch einmal alle getroffen hätten, um die Details durchzugehen: Rothstein sollte eine Pizza in der Pizzeria bestellen, für die Wells arbeitete, und Wells sollte sie liefern - und zwar zu einem unbewachten Funkturm, wo die Bombe an Wells angebracht wurde.
Diehl-Armstrongs Motiv, so Barnes, sei das Geld gewesen. Sie selbst hatte hingegen immer behauptet, sie sei so reich, dass sie so etwas gar nicht nötig gehabt habe - im Gegensatz zu Rothstein, dem der Verlust seines Hauses gedroht habe.
In einem Punkt stimmten Barnes' und Diehl-Armstrongs Aussagen aber überein: dass Brian Wells freiwillig mitgemacht habe.
So bleibt am Ende mindestens seine Rolle weiterhin fraglich.
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.