• In Afrika herrscht wegen der schlimmsten Trockenheit seit 40 Jahren eine Hungerkrise. Millionen Menschen haben nicht genug zu essen.
  • Welche Rolle spielt Europa dabei?
  • Der kenianische Agrarökonom Timothy Njagi fordert im Interview mehr Wissenstransfer für Ernährungssicherung.
Ein Interview

Im Norden Kenias sowie in vielen Regionen Somalias und Äthiopiens herrscht die schlimmste Trockenheit seit 40 Jahren. Laut den Vereinten Nationen haben am Horn von Afrika etwa 17 Millionen Menschen nicht genug zu essen. Die Zahl könnte bis September auf 20 Millionen steigen.

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Die schwere Dürre hat nach UN-Angaben bereits ein Drittel der Viehherden das Leben gekostet. Für halbnomadische Viehhalter ist der Tod ihrer Tiere eine Katastrophe, denn sie sind zum Überleben auf die Vierbeiner angewiesen: Sie trinken die Milch, essen das Fleisch oder verkaufen ein Tier, wenn sie Geld brauchen. Wer seine Herde verloren hat, folgt bald selbst. Es sei denn, er oder sie bekommt kurzfristig Hilfe.

Die Dürre ist der Hintergrund für die gegenwärtige Ernährungskrise in Ostafrika. Aber sie ist nicht der einzige Grund, sagt der Agrarökonom Timothy Njagi. Er forscht am Tegemeo Institute of Agricultural Policy and Development in der kenianischen Hauptstadt Nairobi. Im Interview spricht er auch über die Rolle der EU und darüber, was sie künftig tun könnte, um die Ernährungssicherheit in Afrika zu verbessern – nicht nur in der gegenwärtigen Krise, sondern langfristig.

Herr Dr. Njagi, was sind die Gründe für die gegenwärtige Ernährungskrise in Ostafrika?

Selbst in den besten Jahren produziert die Region nicht genug Nahrungsmittel, um die Bevölkerung aus der eigenen Produktion ernähren zu können. Im Moment kommt noch eine schwere Dürre hinzu. Wir sind also immer, aber jetzt besonders auf Importe angewiesen. Konkret auf Verkäufer, die Vorräte haben und in der Lage sind, sie uns zu schicken. Das ist aufgrund des Kriegs in der Ukraine bekanntermassen schwierig geworden. Vorher waren die Lieferketten schon durch die Corona-Pandemie zum Teil unterbrochen. Weil wir immer Nahrungsmittel importieren müssen, ist Handelspolitik für uns sehr wichtig. Wir sind darauf angewiesen, dass Waren – Lebensmittel – schnell und effizient transportiert werden können. Und genau dort gibt es natürlich auch in "normalen" Zeiten politische Hindernisse.

Welche Rolle spielt die EU?

Landwirtschaftliche Programme, die von der EU gefördert wurden, haben sich in der Vergangenheit hauptsächlich auf die Technologien konzentriert, die Europa in Afrika fördern wollte. Diese Programme waren in unterschiedlichem Masse erfolgreich. In manchen Regionen haben sie recht gut funktioniert, anderswo überhaupt nicht.

Was für Technologien oder Programme meinen Sie?

Die EU hat zum Beispiel die Milchwirtschaft und die Intensivierung der Milchviehhaltung gefördert. Aber das nutzt nur einer kleinen Gruppe von Erzeugern in Kenia. Einige von ihnen konnten ihre Produktivität dank dieser Programme deutlich erhöhen. Aber der Grossteil der Viehhaltung findet in Kenia unter anderen Bedingungen statt. Nämlich in halbtrockenen Regionen, dort ist wegen der klimatischen Bedingungen nur extensive Viehhaltung möglich. Die EU-Programme zur Produktivitätssteigerung funktionieren da nicht. Im Gartenbau gab es auch einige Erfolge, beispielsweise bei Tomaten. Aber wir müssen noch viel mehr und bei anderen Gemüsearten tun. Wir sind auf jeden Fall dankbar für die Unterstützung, die wir erhalten haben. Vor allem bei dem Aufbau von Wertschöpfungsketten, also der Verarbeitung von Lebensmitteln hier bei uns. Das ist wichtig, damit die Bäuerinnen und Bauern ihren Lebensunterhalt verdienen und sich auf dem Markt das leisten können, was sie nicht anbauen oder herstellen. Die EU ist einer unserer wichtigsten Märkte, besonders für einige Anbauprodukte wie französische Bohnen. Idealerweise sollten wir sicherstellen, dass unsere Landwirte in der Lage sind, wettbewerbsfähig zu produzieren und die Standards zu erfüllen, die auf dem EU-Markt verlangt werden.

Empfinden Sie die EU-Handelspolitik gegenüber Afrika als fair?

Nein, ich würde nicht sagen, dass sie fair ist. Eines der Probleme ist, dass die EU einige Anforderungen an landwirtschaftliche Produktlebe stellt, die weit über dem liegen, was alle anderen Märkte fordern. Wenn man sich zum Beispiel den "Green Deal" anschaut, den die Europäische Union vorgeschlagen hat …

… also das Konzept, das EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen im Dezember 2019 vorgestellt hat. Dessen Ziel ist es, Europa bis 2050 klimaneutral zu machen. Er enthält aber auch neue landwirtschaftliche Standards unter dem Stichwort "Farm to Fork": Die EU möchte die Führung dabei übernehmen, globale Ernährungsstandards zu setzen.

Genau. Der "Deal" enthält die Forderung, dass wir biologisch produzieren müssen. Aber so weit sind wir noch nicht, so effizient ist unsere Landwirtschaft bisher nicht. Wenn wir den grössten Teil der Lebensmittel biologisch herstellen wollten, müssten wir den Landwirten für ihre Produkte viel mehr zahlen. Die Verbraucher in der EU würden diese höheren Kosten wohl nicht akzeptieren. Im Extremfall würde das bedeuten, dass viele Landwirte ihre Existenzgrundlage verlieren. Das ist das eine. Das andere sind offensichtliche Widersprüche: Die EU ist die Nummer zwei bei der Einfuhr von Pestiziden in die Region. Es würde also Sinn machen, dass Europa zunächst den Verkauf von Pestiziden nach Afrika einstellt und dann erst fordert, dass wir biologisch anbauen. Pestizide zu verkaufen, die Europa selbst nicht akzeptiert, ist ein Widerspruch, auf den man hinweisen muss.

Haben Sie eine Vorstellung davon, wie viel teurer die ökologische Produktion für die Bauern in Kenia sein würde?

Nein, dazu wir müssen erst noch eine Studie durchführen, die das vergleicht. Bei uns ist die ökologische Landwirtschaft noch ein ziemlicher Nischenmarkt. Aber wir sind ja schon mit den konventionellen Produktionsmethoden nur begrenzt wettbewerbsfähig. Es gibt bei den meisten Produkten andere Landwirte, die zu viel niedrigeren Kosten produzieren als wir. Wir nehmen also an, dass der ökologische Markt viele unserer Landwirte völlig überfordern würde, denn es wäre irrational zu erwarten, dass ein Landwirt, der mit der konventionellen Methode nicht wettbewerbsfähig ist, im ökologischen Landbau wettbewerbsfähig sein könnte. Der ökologische Landbau ist technisch anspruchsvoller als die konventionelle Erzeugung.

Mir war nicht bewusst, dass die "Farm to Fork"-Strategie im "Green Deal" bedeuten würde, dass auch das, was die EU importiert, biologisch produziert sein muss.

Ja, zumindest ein Teil davon. Wir müssten dem ökologischen Landbau zumindest eine viel grössere Fläche zuweisen, als wir es jetzt haben. Wir glauben, dass Landwirte auf ökologische Landwirtschaft umstellen, wenn es sich für sie wirtschaftlich lohnt. Wenn sie dadurch höhere Gewinnspannen haben. Warum arbeiten wir nicht mit wirtschaftlichen Anreizen, statt mit politischem Druck? In Kenia können Bio-Bäuerinnen und -Bauern mit ihren Produkten doppelt so hohe Preise erzielen wie mit konventionellen Produkten. Wenn wir den Umstieg aber mit Gewalt durchsetzen wollen, schaffen wir ein Problem. Denn es gibt Menschen, die aus finanziellen Gründen mehr auf den Preis von Lebensmitteln achten müssen als auf die Art ihrer Erzeugung. Das muss bei den politischen Entscheidungen berücksichtigt werden.

Sie haben die Lebensmittelsicherheit angesprochen, die Europa laut dem "Green Deal" erreichen möchte. Laut einer Studie von Greenpeace und Public Eye werden aus der EU viele Schädlingsbekämpfungsmittel auch nach Afrika verkauft, deren Anwendung in Europa bereits verboten ist.

Ja. Im Grunde verkaufen sie uns etwas und sagen dann: "Verwendet das bloss nicht! Jedenfalls nicht, wenn ihr uns das Endprodukt verkaufen wollt." Wenn Europa uns diese Pestizide nicht mehr verkaufen würde, wir sie aber weiterhin aus China beziehen würden, dann könnte ich die europäischen Regeln besser verstehen. Noch etwas anderes kommt hinzu: Unsere Landwirte setzen Pestizide ein, weil sie Angst vor Ernteausfällen haben, und die sind zum Teil wirklich erheblich. Die EU hat mittlerweile neue Technologien, mit denen sie den Einsatz von Pestiziden ersetzen oder stark reduzieren kann. In Kenia sind diese Technologien nicht verfügbar. Warum kann die EU den Einsatz dieser Technologien in Afrika nicht fördern?

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Von was für Technologien sprechen Sie?

Von biologischer Schädlingsbekämpfung in Kombination mit IT. Ein Beispiel: In Deutschland gibt es ein hoch technisches Überwachungssystem zur Kontrolle von Schädlingen, beispielsweise des extrem zerstörerischen Herbst-Heereswurms. Es ist 100 Prozent biologisch. Die Technologie hilft dabei, die Fressfeinde der Schädlinge genau dort abzusetzen, wo der Schädling ist. Das Problem mit dieser Technologie: Alles steht und fällt mit Präzision. Wenn man den Fressfeind 24 Stunden zu spät abwirft, hat man einen grossen Ernteverlust. Wir in Kenia haben diese Technologie nicht. Wir erwarten gar nicht, dass Europa uns das Wissen einfach so zur Verfügung stellt. Aber warum könnten wir nicht die Partnerschaft im Bereich der Wissenschaft stärken? Also beispielsweise zwischen den Universitäten in Deutschland, die diese Technologie entwickelt haben, und unseren Universitäten? Die könnten auf der Grundlage dessen, was in Deutschland bereits aufgebaut wurde, lokale Lösungen entwickeln, die an die hiesigen Verhältnisse angepasst sind und genauso gut funktionieren. Ohne dass wir einfach nur kopieren und übertragen, was anderswo angewendet wird.

Wie könnte global gesehen ein gerechtes System der Ernährungssicherheit aussehen? Auch angesichts der Folgen der Klimakrise, des Kriegs in der Ukraine und ähnlicher Entwicklungen?

Einige Länder verbieten wegen der weltweiten Knappheit bereits die Ausfuhr von Nahrungsmitteln. Ich kann das verstehen. Wenn Kenia Überschüsse produzieren würde, würden wir vermutlich auch zunächst sicherstellen wollen, dass unsere Bevölkerung genug zu essen hat, ehe wir exportieren. Aber ich denke, dass wir idealerweise eine weltweit nachhaltige Produktion fördern sollten. Denn jedes Land ist in der Lage, etwas besonders gut zu produzieren, was jemand anders braucht. Wir müssen also die Handelsschranken beseitigen, insbesondere bei Lebensmitteln. Wir wissen beispielsweise, dass wir in Kenia einige Produkte sehr gut und günstig produzieren können, aber beispielsweise nicht Mais. Selbst innerhalb der Region wird Uganda Mais vermutlich immer billiger produzieren als wir. Dafür kann Kenia Milchprodukte viel günstiger herstellen. Wir sollten durch effiziente Handels- und Logistiksysteme ohne künstliche politische Hürden dafür sorgen, dass der kostengünstige Austausch von Waren möglich bleibt.

Glauben Sie, dass Russland und China jetzt von der Verknappung von Weizen und anderen Getreidearten auf dem Weltmarkt profitieren und den Weizen strategisch nutzen werden, damit sich neue politische Blöcke bilden?

Diese Sorge halte ich für berechtigt. Aber die gegenwärtige Situation kann auch eine Chance für den Rest der Welt sein. Russland ist als Exporteur von Weizen vor allem für afrikanische Länder von grosser Bedeutung. Wir müssen darüber nachdenken, wie wir diese übermässige Abhängigkeit von einem Land beenden können. Wie können wir unsere eigene Produktion steigern, damit wir nicht mehr so stark von Russland abhängig sind? Das braucht aber etwas Zeit. Gegenwärtig ist es in der Tat so, dass die Menschen in vielen Ländern des afrikanischen Kontinents das Gefühl haben, sie müssten sich zwischen dem Westen und Russland mit China entscheiden. Und vielleicht entscheiden sie sich lieber für Russland, als ihre eigene Produktion weiterzuentwickeln.

Was sehen Sie dabei für Möglichkeiten?

Nehmen wir Kenia als Beispiel. Weizen werden wir vermutlich unter keinen Umständen selbst in den Mengen anbauen können, die wir gegenwärtig verbrauchen. Aber wir entdecken jetzt Lebensmittel neu, die unsere Grossväter und Grossmütter gegessen haben und die wir irgendwann nicht mehr konsumiert haben. Das sind Lebensmittel wie Kassava, Hirse oder Sorghum, die an die klimatischen Verhältnisse hier sehr gut angepasst sind. Im Zuge der Urbanisierung haben wir sie aufgegeben. Wir müssen darüber nachdenken, wie wir für diese Lebensmittel wieder einen Markt schaffen können. Wir können in Lateinamerika beobachten, dass das funktioniert. Quinoa gibt es mittlerweile sogar in Nairobi. Wir könnten versuchen, beispielsweise den Anbau von Kassava wieder zu fördern und auch zu exportieren.

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Verwendete Quellen:

  • Offizielle Website der Europäischen Union: Europäischer Grüner Deal - Erster klimaneutraler Kontinent werden.
  • carnegieendownment.org: What Does the European Green Deal Mean for Africa? Paper from Zainab Usman, Olumide Abimbola, Imeh Ituen (October 18, 2021).
  • euractiv.de: Kenia uneins über Pestizidverbot zur Angleichung an EU-Green Deal (06.01.2022).
  • greenpeace.ch: Verbotene Pestizide: EU exportiert über 80‘000 Tonnen, ein Drittel davon stammt von Syngenta (10.09.2020).
  • die-pflanzenschuetzer.de: Drohne gegen Schädlinge: High-Tech-Pflanzenschutz aus der Luft.
  • deutschlandfunk.de: Der automatische Insektenkundler (29.06.2022).
  • theconversation.com: New bugs, found in Kenya, can help to control major maize pests (April 29, 2020).
Dieser Beitrag stammt vom Journalismusportal RiffReporter. Auf riffreporter.de berichten rund 100 unabhängige JournalistInnen gemeinsam zu Aktuellem und Hintergründen. Die RiffReporter wurden für ihr Angebot mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet.

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