Für viele Menschen ist das Mittelmeer einfach nur eine Urlaubsregion, doch Forschungstaucher Uli Kunz kennt es auch von einer anderen Seite. Im Interview erzählt von Weissen Haien, grünen "Weisswürsten" und anderen unbekannten Bewohnern des Mittelmeers.
Als kleiner Junge hat Uli Kunz am Mittelmeer das Schnorcheln gelernt und gerne mit den neugierigen Oktopussen im Flachwasser gespielt. Heute wagt sich der Forschungstaucher und Filmemacher auch schon mal in Eislöcher, Höhlen oder die ganz dunklen Tiefen der Ozeane. Immer wieder kehrte er – unter anderem für die Sendung "Terra X" – ans Mittelmeer zurück und erzählt, was es dort zu entdecken gibt.
Was war Ihr eindrucksvollstes Mittelmeer-Erlebnis?
Uli Kunz: Das war ein Tauchgang in einer tiefen Höhle in Port-Miou, in der Nähe von Marseille. Dort kann man durch einen gewaltigen Tunnel tauchen, der sicher einen Durchmesser von 20 bis 30 Metern hat. Wenn man etwa 400 Meter weit getaucht ist, steht dort plötzlich so ein riesiger, von Menschen gebauter Damm, der die ganze Höhle abtrennt. Er hat aber ein paar Löcher und durch die kann man mit einem Scooter hindurchfahren und dann noch kilometerweit weiter schwimmen. Das ist schon echt irre. Da wollten die Menschen mal Süsswasser abschöpfen, das hier aus dem Landesinneren herauskommt. Aber es hat nicht funktioniert und der Damm wurde aufgegeben. Das war ein enorm beeindruckendes Erlebnis, weil es zeigt, wie wir versuchen, uns die Landschaft untertan zu machen und wie das manchmal eben auch schiefgeht. Aber vom Mittelmeer kann man natürlich tausend Sachen erzählen. Es gibt dort verrückte Lebensformen. Man kann überall abtauchen und man wird ganz häufig etwas Beeindruckendes erleben.
Sie sind ja nun schon unzählige Male abgetaucht. Was wissen Sie übers Mittelmeer, was sonst kaum einer weiss?
Übers Mittelmeer ist natürlich viel bekannt, weil es ein sehr gut erforschtes Meer ist. Ich glaube, es sind vielleicht drei Tiere, die viele Menschen gar nicht auf dem Schirm haben, wenn sie ans Mittelmeer denken: Das ist zum einen der Finnwal, das zweitgrösste Tier, das jemals auf der Welt gelebt hat. Der wird so zwischen 50 und 80 Tonnen schwer und maximal 27 Meter lang. Aber Finnwale kommen natürlich ganz selten in Küstennähe und daher sieht man sie auch nur selten.
Und dann gibt es auch noch eine Population von Weissen Haien im Mittelmeer, die auch kaum ein Mensch jemals zu Gesicht bekommt. Und da lache ich mich dann immer tot, wenn es grossen Aufruhr gibt, weil auf Mallorca wieder irgendwo ein kleiner Blauhai gesichtet wurde oder irgendwelche portugiesischen Galeeren am Strand angespült wurden. Wenn die Leute wüssten, was noch alles so im Mittelmeer schwimmt, würden sie vielleicht keinen Fuss mehr hineinsetzen. Aber die Angst ist natürlich völlig unbegründet.
Finnwale, Weisse Haie – und was ist das dritte Tier?
Ich liebe ja die Freaks und die Nerds im Tierreich. Und im Mittelmeer gibt es Bonellia viridis. Das ist ein Igelwurm, den man auch beim Schnorcheln im Flachwasser sehen kann. Er hat einen grünen Faden, so eine Art Tentakel, der etwa einen halben Meter lang ist und der sich ganz schnell unter einen Fels zurückzieht, sobald man ihn berührt. Wenn man unter diesen Felsen schauen kann, findet man dort ein Tier, das wie so eine grüne Weisswurst aussieht, total wabbelig und weich. Es hat keine Augen und auch sonst kaum Sinnesorgane – und es ist eines der absurdesten Viecher, die man treffen kann.
Warum?
Diese Würstchen sind alles Weibchen und wenn die ihre Eier ablegen, dann schwimmen die Larven erst im Wasser und fallen dann irgendwann runter auf den Boden und werden verdriftet. Und nur da, wo eine Larve ein Weibchen berührt, wird es zu einem Männchen. Ansonsten bleiben es alles Weibchen. Und die Männchen sind so klein, dass sie nur auf dem Weibchen leben und die ganze Zeit nur dafür da sind, die Eier zu befruchten. Und solche Viecher finde ich natürlich auch ganz, ganz grossartig.
Grüne Weisswürste im Mittelmeer finde ich sogar fast noch spektakulärer als Weisse Haie.
Manchmal wünschte ich mir, ich wäre so ein Tier. Dann müsste man sich nicht mehr in diesem ganzen Hamsterrad aufhalten, sondern wäre einfach ein schleimiges, grünes Würstchen am Grunde des Mittelmeeres. Die haben auch kaum natürliche Feinde. Also, ich glaube, die haben ein relativ gemütliches Leben.
Das Mittelmeer kann aber auch ungemütlich werden: Wir hatten gerade die höchsten jemals gemessenen Wassertemperaturen im Mittelmeer, dazu kommen Versauerung, Verschmutzung, Überfischung. Erleben Sie diese Krisen, wenn Sie tauchen?
Die zwei grossen Krisen sind einerseits die Verschmutzung und andererseits die Überfischung. Wir Menschen holen ja schon seit Jahrtausenden Fische aus dem Ozean heraus. Und im Mittelmeer hat das durch die vielen Anrainerstaaten eine ganz eigene Dynamik gehabt, weil einfach so viele Länder ihre Flotten ins Mittelmeer geschickt haben. Als Taucher konnte ich das schon vor vielen Jahrzehnten sehen, weil die Harpunen-Fischerei so überhandgenommen hat, dass es an den küstennahen Tauchorten gar keine grossen Fische mehr gab. Da sind Menschen einfach als Freitaucher oder auch illegalerweise mit Sauerstoffflasche im Meer unterwegs und schiessen mit einer Harpune dann die grossen Zackenbarsche raus.
"[O]b das die Lebensqualität der Tiere dort beeinflusst, das wird sich zeigen."
Und die Verschmutzung durch die ganzen Abwässer der Anrainer-Staaten hat im Mittelmeer auch einen starken Effekt, weil es im Vergleich zum Atlantik oder zum Pazifik so ein relativ kleiner Wasserkörper ist. Wie sich jetzt die zunehmende Erwärmung auswirkt, ob das die Lebensqualität der Tiere dort beeinflusst, das wird sich zeigen. Da wird es auf jeden Fall eine Veränderung geben. Aber in welche Richtung das geht, weiss man noch nicht ganz genau.
Gibt es denn auch Entwicklungen, die Ihnen Hoffnung machen?
Wir drehen gerade für "Terra X" eine Folge, in der es um die Fischerei geht. Und wir haben uns da den Blauflossenthun als Beispiel herausgenommen. Einerseits, um zu zeigen, wie stark der in manchen Ecken der Erde bedroht ist. Andererseits aber auch, um Erfolgsgeschichten zu zeigen. Und eine davon spielt im Mittelmeer: Noch vor 20 Jahren haben alle Länder hier versucht, so viel Thunfische wie möglich aus dem Wasser zu ziehen, weil er einer der wertvollsten Fische ist. Weil die Thunfische sich im Mittelmeer fortpflanzen, bevor sie nach ein paar Jahren wieder in den offenen Atlantik herausziehen, gab es dort eine grosse Population, die durch die Überfischung auf fünf oder zehn Prozent ihrer ursprünglichen Grösse zurückgegangen ist. Doch dann haben sich die Länder tatsächlich geeinigt und die Quote für den Thun drastisch reduziert – auch im Atlantik. Und daraufhin hat sich der Thunfisch im Mittelmeer innerhalb von wenigen Jahren enorm erholt.
Sie haben eingangs gesagt, es gibt unzählige beeindruckende Sachen über das Mittelmeer zu erzählen. Haben Sie noch eine zum Abschluss?
Am Boden des Mittelmeeres findet man Salzschichten, die mehrere Hundert Meter oder sogar Kilometer dick sein können. Die haben sich dort abgelagert, weil das Mittelmeer vermutlich mehrere Male hintereinander ausgetrocknet ist. Das kann man sich natürlich überhaupt nicht vorstellen, weil das in geologischen Zeiträumen passiert. Aber als die Strasse von Gibraltar durch geologische Hebungen geschlossen war und es sonst keinerlei Zuflüsse aus anderen Meeren gab, war die Verdunstung teilweise so stark, dass der Wasserspiegel über Jahrtausende immer weiter zurückgegangen war. Und dadurch haben sich am Boden diese riesigen Salzschichten abgelagert. Dort, wo sie durch geologische Prozesse wieder an die Oberfläche kamen, kann man sie heute sogar teilweise begehen. Das haben wir mal auf Sizilien gemacht, da sind wir in so eine Salzmine hineingelaufen. Das ist echt verrückt, weil Du stehst dann mehrere 100 Meter tief im Berg und hast da diese riesigen Salzschichten, die von der Verdunstung des Mittelmeers kommen. Das sind eben auch sehr spannende Zusammenhänge, die wenige Menschen wissen, wenn sie da am Badestrand liegen.
© RiffReporter
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