• Neben der Klimakrise haben wir mit einer weiteren grossen Naturkrise zu kämpfen: dem Verlust der Biodiversität.
  • Warum das Artensterben in der Öffentlichkeit aber kaum Aufmerksamkeit bekommt, erklärt ein Experte im Interview.
  • Er erläutert zudem, wie die beiden Krisen zusammenhängen, warum uns das Aussterben des Störs betrifft und warum Wissenschaft unbequem sein muss.
Ein Interview

Herr Tockner, Sie als Generaldirektor der Senckenberg-Gesellschaft für Naturforschung und einige Ihrer Kolleginnen und Kollegen haben vor einigen Wochen die "Berliner Erklärung" für mehr biologische Vielfalt veröffentlicht. Darin fordern Sie unter anderem, dass Deutschland seine G7-Präsidentschaft mehr für diese Zwecke nutzt. Wie bewerten Sie dahingehend den G7-Gipfel in Elmau?

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Klement Tockner: Es gibt noch keine konkreten Zusagen. Es gibt aber ein klares Bekenntnis, mehr für den Klimaschutz zu tun. Und natürlich dienen diese Massnahmen sehr häufig auch dem Schutz der biologischen Vielfalt. Aber es wird auch deutlich, dass Massnahmen zur Eindämmung der Erderwärmung massive negative Auswirkungen auf die biologische Vielfalt haben können. Die Klimakrise und die Biodiversitätskrise müssen gemeinsam behandelt werden.

Können Sie das genauer erklären?

Unsere Gewässer sind möglicherweise die grössten Verlierer des Pariser Klimaabkommens. So erfahren wir derzeit einen globalen Boom beim Ausbau der Wasserkraft. Das ist eine erneuerbare, aber keine umweltfreundliche Energiequelle. Gerade in den Tropen und Subtropen sind Stauseen wesentliche Emittenten von klimaschädlichen Gasen wie Methan und CO2. Zugleich gibt es kaum noch frei fliessende Flüsse und der Rückgang der biologischen Vielfalt ist daher in den Gewässern um ein Mehrfaches ausgeprägter als an Land oder im Meer. Durch den Ausbau der Wasserkraft und die zusätzliche Fragmentierung der Gewässer ist diese Vielfalt noch stärker bedroht, gerade auch, weil viele der zukünftigen Dämme in biologisch besonders wertvollen Regionen liegen. Amazonas oder Mekong sind hierfür Beispiele.

Was sind Ihre konkreten Forderungen? Wenn Sie mit Herrn Scholz zusammensässen, was würden Sie ihm sagen?

Es muss den Entscheidungsträgern bewusst sein, dass die biologische Vielfalt unsere Lebensgrundlage ist und dass unser Wohlstand und unser langfristiges Wohlergehen von dieser Vielfalt abhängig sind. Wir können es uns einfach nicht leisten, dass wir unseren Planeten einerseits als Müllkippe und andererseits als "Steinbruch" verwenden. Der Rückgang der biologischen Vielfalt ist die grösste Herausforderung, vor der wir stehen. Erstens ist sie unumkehrbar. Und zweitens wissen wir nicht, was ein 10-, 20- oder 30-prozentiger Rückgang dieser Vielfalt für die Natur und schlussendlich für uns Menschen bedeutet. Die Politik ist verpflichtet, Vorsorge zu treffen, um auch den kommenden Generationen eine lebenswerte Zukunft zu gewähren.

Sie sprechen ja auch von einer "Zwillingskrise", also Artensterben und Klimakrise. Wie hängen die beiden zusammen?

Die Erderwärmung ist ein wesentlicher Faktor für den Rückgang der biologischen Vielfalt. Noch sind Landnutzung, Verschmutzung, Einwandern oder Einschleppen von nicht-heimischen und invasiven Arten stärker wirkende Faktoren. Aber der Einfluss der Erderwärmung nimmt stetig zu. Nehmen wir als Beispiel das Ahrtal und die Hochwasser-Katastrophe im letzten Jahr: Wie hängt diese Katastrophe mit der biologischen Vielfalt zusammen? Ein naturnaher Mischwald kann 200 Liter Wasser pro Quadratmeter speichern, Monokulturen hingegen nur 60 Liter. Das heisst, wenn Sie einen vielfältigen Wald haben, schützt das eben auch den Menschen gegenüber Extremereignissen. Dazu kommt, dass ein Mischwald eine höhere Speicherkapazität für CO2 hat, einen grösseren Erholungswert besitzt und zudem resistenter gegen Klimaveränderungen ist. Wir sehen das gerade bei Kiefernwäldern in Brandenburg, die besonders gefährdet sind, etwa durch Feuer und Trockenheit. Mehr biologische Vielfalt heisst daher auch Schutz des Menschen – nicht nur Schutz der Natur. Wir müssen mit der Natur handeln, nicht gegen sie.

Vielen Menschen ist der Zusammenhang zwischen Lebensmittelproduktion und Insektensterben mittlerweile bewusst. Aber gibt es da noch andere Faktoren, die den Menschen direkt betreffen?

Der europäische Stör ist ein gutes Beispiel: Er war vor 150 Jahren noch eine weit verbreitete und sehr häufige Fischart in Europa. Jetzt gibt es nur noch eine winzige Restpopulation in der Garonne in Frankreich mit wenigen Dutzend weiblichen Exemplaren. Dass es keine Störe mehr in der Elbe oder im Rhein gibt, hat noch keine unmittelbaren Auswirkungen auf uns. Aber wenn wir viele dieser Arten verlieren, verändert sich das gesamte Landschaftsbild. Und das hat Kaskadeneffekte bis hin zum Verlust der Stabilität von ganzen Lebensräumen. Um auf die Landwirtschaft zurückzukommen: Hierzulande verfüttern wir 60 Prozent des Getreides, 16 Prozent werden verheizt, nur 20 Prozent werden gegessen. Die Landwirtschaft ist der grösste Treiber für den Verlust der biologischen Vielfalt. Die Qualität der Nahrungsmittel muss stärker in den Vordergrund rücken. Gleichzeitig muss dafür gesorgt werden, dass sich auch sozial schwache Schichten hochwertige Lebensmittel leisten können.

Neben den aktuellen Krisen der letzten Jahre haben es grössere, komplexere Krisen in der öffentlichen Wahrnehmung schwer. Über die Klimakrise wird mittlerweile zwar öfter gesprochen, über die Biodiversitätskrise noch kaum. Haben Sie eine Erklärung dafür, woran das liegen könnte?

Erstens merken wir den Verlust der biologischen Vielfalt nicht unmittelbar; ganz anders ist es bei der Zunahme an Extremereignissen wie Tornados, Hochwasser, Waldbränden oder Hitzewellen. Zweitens sind die Zusammenhänge komplex und wir tun uns mit dieser Komplexität sehr schwer. Für die Veränderungen gibt es nicht eine einzige Ursache, es bestehen keine monokausalen Zusammenhänge. Nehmen wir noch einmal den Stör: Überfischung, Kanalisierung der Gewässer und Verschmutzung sind gemeinsam verantwortliche Ursachen für sein Verschwinden. Das macht es auch so schwierig, gegenzusteuern, weil wir nicht den einen Hebel haben, den wir umlegen können. Bei der Erderwärmung hat man im Wesentlichen einen Treiber: die zunehmende CO2-Konzentration in der Luft.

Sehen Sie auch bei den Medien noch Nachholbedarf?

Es braucht mehr qualitätsvollen Wissenschaftsjournalismus, der aber in den letzten Jahren massiv abgebaut wurde. Wir haben eine immense Informationsflut, die muss aufbereitet werden. Und das Thema muss ins Hauptabendprogramm. Zwar wurde unlängst im ZDF-"heute journal" über Biodiversität gesprochen, aber eigentlich müsste es in jeder "Tagesschau" und in jedem "heute journal" einen Wissenschaftsteil geben. So wie Kultur und Sport. Es muss allen klar werden, warum Wissenschaft von solch fundamentaler Bedeutung ist: Weil wir es uns einfach nicht leisten können, Entscheidungen von riesiger Tragweite nicht auf Basis des besten verfügbaren Wissens zu treffen.

Es gibt ja durchaus auch positive Signale, beispielsweise das EU-Renaturierungsgesetz. Ist das tatsächlich ein Grund zur Hoffnung oder erst erst mal nur Wörter auf Papier?

Ich glaube, da besteht Grund zur Hoffnung. Auch weil die Alternativen unverzeihlich wären. Bei der Renaturierung erwähne ich auch die Wasserrahmenrichtlinie. Es muss oberste Priorität sein, die letzten naturnahen Flüsse langfristig zu erhalten. Die ganze Diskussion über Renaturierung wird obsolet, wenn wir nicht in der Lage sind, die letzten frei fliessenden und unverbauten Flüsse langfristig zu sichern. Wir brauchen diese auch als Referenzsysteme, um zu verstehen, wie ein natürlicher Fluss funktioniert und ob Renaturierungsmassnahmen auch den gewünschten Erfolg haben. Und auch, um kontinuierlich zu lernen. Ein vergleichbares Beispiel: Das Abschmelzen der Gletscher ist ja nicht nur der Verlust eines wesentlichen Wasserspeichers, sondern wir verlieren auch die natürlichen Archive, um rekonstruieren zu können, welche Klima- und Umweltveränderungen in den letzten 20.000 Jahren stattgefunden haben. Es schmilzt somit auch Wissen unwiederbringlich ab.

Nach einigem Hin und Her findet die UN-Biodiversitätskonferenz nun Ende des Jahres in Kanada statt. Von den Vorverhandlungen in Nairobi gab es nun aber die Nachrichten, dass diese aus Sicht von Umweltorganisationen sehr enttäuschend verlaufen sind. Haben Sie konkrete Hoffnungen für diesen Gipfel?

Ich habe von einigen Teilnehmern gehört, dass sie unglaublich enttäuscht abgereist sind, weil man sich nicht einmal auf Mindestmassnahmen wie Finanzierungszusagen des globalen Nordens einigen konnte. Der Gipfel ist bereits fünfmal verschoben worden. Er darf aber einfach nicht scheitern! Man sieht hier auch die Schwäche von globalen Organisationen, die Entscheidungsprozesse sind zu langsam, zu behäbig. Politik, Wirtschaft, Finanzsektor und die NGOs als Vertreter der Zivilgesellschaft müssen intensiv zusammenarbeiten. Die Wissenschaft muss die Fakten als Basis für die Entscheidungen zur Verfügung stellen, und zwar für alle und ungeschminkt. Wissenschaft muss dabei auch unbequem sein und auf Entwicklungen aufmerksam machen, die viele vielleicht nicht hören wollen. Auch und gerade hier kommt Ländern wie Deutschland eine grosse Verantwortung zu, weil wir einen hohen Grad an Freiheit der Wissenschaft haben, die weltweit mehr und mehr bedroht ist.

Wie meinen Sie das?

Die unabhängige Wissenschaft ist bedroht, es wird verstärkt Auftragsforschung gemacht. Manche Themenbereiche werden nicht mehr finanziert. Wir haben auch immer weniger Monitoring-Programme, etwa um die biologische Vielfalt oder auch die Klimaänderungen dokumentieren zu können. Somit fehlen uns verlässliche Daten und ohne Daten gibt es kein Wissen. Und je länger wir warten, desto teurer wird es, desto schwerer wird es, gegenzusteuern. Und desto höher sind die Kosten und die Lasten für unsere Kinder und Enkelkinder. Das muss uns einfach bewusst sein. Wir brauchen auch interdisziplinäre Forschung, wo Sozialwissenschaften, Naturwissenschaften, Technikwissenschaften zusammenwirken. Ein Sektor alleine reicht oft nicht aus.

Zum Abschluss: Wie können wir die Biodiversitätskrise bewältigen?

Angesichts der genannten Krisen besteht die Gefahr, dass ein gewisser Fatalismus entsteht. Deswegen müssen wir konkrete Lösungen anbieten. Gerade auch seitens der Wissenschaft. Und wir dürfen nicht den Fehler machen, Entscheidungen ausschliesslich den individuellen Menschen zu überlassen. Im Endeffekt ist für die Umsetzung mutige Politik gefordert, sie darf sich nicht aus der Verantwortung stehlen. Es braucht also beides: eine mutige, verantwortungsvolle Politik und ein Verantwortungsbewusstsein jedes Einzelnen. Wir werden um grosse gesellschaftliche Transformationen nicht herumkommen – in der Landwirtschaft, im Verkehr oder im Energiesektor. Dabei sind sogenannte naturbasierte Lösungen ein guter Weg, etwa den Forst in einen Wald, einen Kanal in einen Bach und einen Acker in eine blühende Wiese umzuwandeln. Mehr Vogelarten machen uns sogar glücklicher – das ist kein Witz, das haben Forschungen bei Senckenberg gezeigt. Wir haben eine grosse Verantwortung gegenüber den zukünftigen Generationen. Es geht uns im globalen Norden so gut wie nie zuvor. Gleichzeitig geht es der Natur so schlecht wie nie zuvor. Das hängt sehr stark damit zusammen, dass wir unseren derzeitigen Wohlstand aus der Nutzung und Ausbeutung der Natur beziehen. Nimmt man die fossilen Rohstoffe als Beispiel: Es hat 100 Millionen Jahre benötigt, um diese aufzubauen – und nur 15 Menschengenerationen, um sie buchstäblich zu verheizen. Und es wird wieder 100 Millionen Jahre benötigen, um diesen Rohstoff wieder zu bilden. Die Auswirkungen unseres jetzigen Handelns werden wir somit in Hunderten, in Tausenden, ja sogar in Millionen Jahren noch sehen. Darauf können wir nicht stolz sein.

Über den Experten: Prof. Dr. Klement Tockner ist Gewässerökologe und seit 2021 Generaldirektor der Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung, die gemeinsam mit dem Museum für Naturkunde Berlin und dem Leibniz-Institut zur Analyse des Biodiversitätswandels im Mai 2022 die "Berliner Erklärung" veröffentlicht hat.

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