Die Naturfotografin Daisy Gilardini stammt aus dem Tessin und lebt heute in Kanada. Dieses Jahr wurde die 50-Jährige vom Magazin "Canadian Geographic" zur "Photographer-in-residence" (Hausfotografin) erkoren. Die gelernte Buchhalterin fotografiert besonders gerne Tiermotive der Polarregionen.

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swissinfo.ch: Wann und warum haben Sie die Schweiz verlassen?

Daisy Gilardini: Ich habe die Schweiz 2012 für die Liebe verlassen. Ich habe David McEown geheiratet, einen kanadischen Aquarellmaler, und bin nach Kanada ausgewandert.

swissinfo.ch: War es eine Reise ohne Rückkehr, oder haben Sie vor, einmal wieder in die Schweiz zurückzukehren?

D.G.: Ich liebe die Schweiz, und in meinem Herzen werde ich sie immer als meine Heimat betrachten. Aber Kanada ist auch ein toller Platz zum Leben, besonders für meinen Beruf. Ich bezweifle, dass ich einmal für immer zurückkehren werde. Aber auf meinen jährlichen Besuch verzichte ich nie.

swissinfo.ch: Welcher Arbeit gehen Sie nach?

D.G.: Als Kind dachte ich immer, dass ich Tierärztin werden würde. Ich habe die Natur und Tiere schon immer geliebt. Doch oft läuft es im Leben anders, als man geplant hat, und ich wurde zertifizierte Expertin für Finanz- und Rechnungswesen in der Schweiz. Nach dem Master-Abschluss eröffnete ich meine eigene Buchführungsfirma.

Während einiger Zeit schaffte ich es dank einem guten Geschäftsplan und meinem Organisationstalent, die Liebe fürs Reisen, die Natur und die Fotografie mit meinen beruflichen Verpflichtungen unter einen Hut zu bringen. Ich begann, mir selber jedes Jahr für einige Monate Aufträge zu erteilen und stellte eine Assistenz an, um mir in der Buchführungsfirma zu helfen.

Doch jedes Mal, wenn ich zurück ins Büro kam, fühlte ich mich ein wenig deprimiert und unerfüllt. Ich begann, Artikel zu schreiben und suchte nach Magazinen, die meine Arbeit publizieren wollten. Es war, als hätte ich zwei Vollzeit-Stellen. Mein Tag fing um sieben Uhr an und war um Mitternacht zu Ende, und das sieben Tage pro Woche.

Es heisst, der Schlüssel zum Erfolg sei, an seine Fähigkeiten zu glauben. Geduld, Leidenschaft und Hartnäckigkeit führen irgendwann zum Erfolg, und schliesslich schaffte ich es, dass meine Arbeit publiziert wurde. 2006 wurde ich Profi-Fotografin. Ich arbeite heute als Natur- und Umweltfotografin und habe mich auf die Polarregionen und die nordamerikanischen Bären spezialisiert.

swissinfo.ch: Was fasziniert Sie besonders an den Tieren der Polarregionen?

D.G.: Meine Liebe zu Tieren geht weit zurück. Als ich vier Jahre alt war, erhielt ich von meinen Pateneltern ein kleines Plüsch-Robbenbaby. Meine Mutter erklärte mir, das Robbenbaby komme aus einer sehr kalten Gegend, wo es auf und unter dem Polareis lebe. Ich war wie gefesselt von diesen Geschichten. Von da an träumte ich davon, diese Tiere eines Tages in ihrer natürlichen Umgebung zu sehen.

Ich brauchte sieben Jahre, bis ich das Geld zusammenhatte, um die Antarktis zu besuchen. Doch diese Reise hat mein Leben komplett verändert! Das war 1997. Seither war ich schon bei fast 70 Expeditionen in die Polarregionen dabei.

Ich habe oft versucht, diese unwiderstehliche Anziehungskraft, welche die Polarregionen für mich haben, zu verstehen. Ich würde es fast als eine Sucht oder Obsession bezeichnen. Die Tatsache, dass man dort isoliert von der modernen Zivilisation und all ihren Ablenkungen ist, bringt mich dazu, mich zu fokussieren und die einfachen Rhythmen der Natur zu schätzen.

swissinfo.ch: Welche Rolle spielen Natur und Umwelt in Ihrem Leben?

D.G.: Das Gefühl, die ursprüngliche Verbindung mit der Natur wieder zu entdecken, und die Wechselbeziehungen zwischen den Arten auf der Erde wecken in mir einen tiefen Respekt und ein Bewusstsein für die Bedeutung dieser empfindlichen Ökosysteme.

Wenn die Menschheit überleben und sich mit unserem Planeten zusammen weiterentwickeln will, dann müssen wir verantwortungsbewusst handeln. Wir müssen mit Bescheidenheit feststellen, dass die Natur nicht auf uns angewiesen ist, wohl aber wir auf sie. Und wir als Umweltfotografen haben die Pflicht, die Schönheit von bedrohten Orten und Arten festzuhalten und durch die universelle Kraft der Bilder das Bewusstsein zu schärfen.

Während die Wissenschaft die nötigen Daten liefert, um Probleme zu erklären und Lösungen vorzuschlagen, macht die Fotografie diese Probleme zu Symbolen. Wissenschaft ist das Hirn, Fotografie aber das Herz. Wir brauchen beides, um das Herz und den Verstand der Menschen zu erreichen und sie zum Handeln zu bewegen. Für die Natur, und für uns.

swissinfo.ch: Wo leben Sie gegenwärtig? Wie ist das Essen dort?

D.G.: Momentan lebe ich in Vancouver. Wir wohnen in einer kleinen Wohnung in einem Gebäude direkt am Pacific Spirit Regional Park. Das ist ein Park von 874 Hektaren in den so genannten University Endowment Lands (Universitäts-Stiftungsland). Wenn ich Zeit habe, mache ich gerne einen Spaziergang im Wald oder am Strand, der nur fünf Minuten Autofahrt von uns entfernt ist.

Vancouver ist eine sehr internationale Stadt mit einem grossen asiatischen Einfluss. Man findet hier jede Art von Essen. Allerdings ist eines der wenigen Dinge, die ich aus der Schweiz vermisse und nirgendwo finden kann, das Bündnerfleisch.

swissinfo.ch: Was ist in Kanada attraktiver als in der Schweiz?

D.G.: In den letzten zehn Jahren bin ich ausgiebig durch Bärenland gereist. Vom Great Bear Rainforest hier in der Provinz British Columbia bis nach Alaska und in die Hocharktis.

Auf eine Art sind die kanadischen Landschaften und Berge ähnlich wie in der Schweiz, aber in viel grösserem Massstab, und es wimmelt nur so von Wildtieren.

swissinfo.ch: Wie denken Sie aus der Ferne über die Schweiz?

D.G.: Ich betrachte die Schweiz als sicheres und politisch sehr stabiles Land, wenn ich hier mit Nordamerika vergleiche.

swissinfo.ch: Fühlen Sie sich manchmal fremd oder sind Sie gut integriert?

D.G.: Durch die Fotografie komme ich während sechs bis neun Monaten pro Jahr viel in der Welt herum. Wenn man so oft unterwegs ist, wird Integration zu einer schwierigen Aufgabe.

Ich fühle mich daheim, wo auch immer ich mit Menschen zusammen bin, die ich mag. Wenn ich auf Schiffen in der Antarktis arbeite, fühle ich mich daheim. Wenn ich mit meinem Ehemann in Vancouver bin, fühle ich mich daheim. Wenn ich mit meinen Freunden in der Schweiz bin, fühle ich mich daheim.

swissinfo.ch: Welche kulturellen Unterschiede bereiten Ihnen am meisten Mühe?

D.G.: Ich finde keine besonders grossen kulturellen Unterschiede.

swissinfo.ch: Was freut Sie in Ihrem Alltag in der Fremde am meisten?

D.G.: Die Tatsache, dass ich innerhalb von wenigen Stunden in der Wildnis sein kann.

swissinfo.ch: Nehmen Sie an Schweizer Wahlen und Abstimmungen teil?

D.G.: Ja, ich stimme per Brief ab.

swissinfo.ch: Was vermissen Sie von der Schweiz am meisten?

D.G.: Meine Freunde. In Vancouver habe ich keine, weil ich nicht genügend Zeit dort verbringe, um neue Freundschaften aufzubauen. Das ist der wohl schwierigste Teil des Lebens im Ausland, aber das ist natürlich auch wegen meiner Arbeit.  © swissinfo.ch

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