- Der Mensch richtet überall, wo er auftaucht, grosse Schäden an.
- Er vernichtet die Vegetation und rottet Tierarten aus.
- Warum das Artensterben ein grösseres Problem als der Klimawandel ist und was uns zukünftig erwartet, erklärt der Evolutionsbiologe Matthias Glaubrecht im Interview.
Tierarten sterben aus, Landschaften verändern sich: Der Mensch hat seit Tausenden Jahren einen grossen Einfluss auf seine Umgebung. Lange hat er gar nicht gemerkt, wie gross dieser tatsächlich ist.
Dabei ist der Klimawandel derzeit nicht einmal das grösste Problem. Die Erde leidet dem Evolutionsbiologen Matthias Glaubrecht zufolge an mindestens drei Krankheiten. Was das für unsere Zukunft bedeutet und welche Hoffnungen er für die Menschheit hat, hat er uns im Interview erklärt.
Herr Glaubrecht, wie hat sich der Einfluss der Menschheit auf die Umwelt entwickelt?
Matthias Glaubrecht: Grob gesagt: Seitdem der Mensch aufrecht laufen gelernt hat, war er 99 Prozent der Geschichte der Menschheit als Sammler unterwegs. Er ist umher gewandert, hat in Streifgebieten seine Nahrung gesucht. Da war sein Einfluss auf seine Umwelt noch vergleichsweise gering. Irgendwann hat er grössere Kreise gezogen, hat Jagen gelernt. Ist mit den Herden der Tiere, von denen er sich ernährt hat, umhergezogen. Und dieses Verhalten haben wir erst vor 10.000 Jahren aufgelöst. Nicht auf einen Schlag, nicht überall gleichzeitig. Aber langsam ist der Mensch sesshaft geworden, hat Viehzucht und Ackerbau gelernt. Diese Verhaltensänderung ist ein wahnsinnig wichtiger Kulturschritt in der Evolution des Menschen gewesen.
Und was folgte unmittelbar darauf?
Eine unmittelbare Folge davon war eine Bevölkerungsverdichtung - und damit auch die Ausbreitung von Infektionskrankheiten, die wir teilweise heute noch als Kinderkrankheiten haben. Vor 2.500 Jahren sind zum Beispiel zum ersten Mal die Masern aufgetaucht, als nächste Verwandte der Rinderpest. Wir haben zuerst mit Feuer und dann mit unserer Landwirtschaft die Vegetation sowie die Erdoberfläche verändert. Bereits der Mensch als Jäger und Sammler hat überall dort, wo er ausserhalb Afrikas aufgetaucht ist, grosse Schäden angerichtet und vielerorts nachweislich etwa die Megafauna vernichtet.
Flächen für Landwirtschaft gerodet und Holz genutzt
Haben Sie konkrete Beispiele dafür ?
Er hat die grosse pleistozäne Tierwelt in Nordamerika und dann in Südamerika ausgerottet. Als er in Australien aufgetaucht ist, sind die grossen Riesenbeuteltiere und -vögel verschwunden. Als er auf den Inseln Polynesiens aufgetaucht ist bis hin zu Neuseeland, sind dort die grossen Megafaunelemente verschwunden. Wenn diese fehlen, hat das auch Auswirkungen auf die Vegetation, deren Zusammensetzung eine andere ist, als wenn grosse Pflanzenfresser dort leben. Wir haben also ganze Landschaften geprägt. Wir brauchten Flächen, um Landwirtschaft zu betreiben. Wir brauchten das Holz, um Bergbau zu betreiben, etwa um die Stollen damit zu stützen; oder für die Segelschifffahrt. Dann bekam man Angst, dass die Wälder nicht so schnell nachwachsen und man nicht genug Baustoff für die Bergbauindustrie hat. So wurde das Prinzip der Nachhaltigkeit im 18. Jahrhundert entwickelt; nicht aus ökologischen Gründen, sondern aus ökonomischem Interesse.
"Wir werden in naher Zukunft eine Million Tierarten verlieren"
Was hat sich im Gegensatz dazu heute geändert?
Früher haben wir die Vegetation verändert, die Tierwelt verändert. Heute greifen wir in die Geosphäre ein. Wir haben Flurchlorkohlenwasserstoffe in die Atmosphäre gepumpt, dann ist ein Ozonloch entstanden. Daraufhin haben wir diese FCKWs schnell verboten. Jetzt schicken wir Treibhausgase nach oben. Vor allem aber verändern wir auch weiterhin die Biosphäre und zwar so weit, dass wir ganze Tierpopulationen auslöschen. Wir werden in naher Zukunft eine Million Tierarten verlieren.
Ist der Klimawandel schuld am Artensterben?
Das ist der Irrtum. Wenn wir beim Klimawandel alles richtig machen, werden wir trotzdem unabhängig davon diesen Verlust haben. Der Klimawandel hat wenig mit dem Artensterben zu tun; er kommt allenfalls erschwerend hinzu, ist aber nicht ursächlich. Ich würde die Grössenordnung bei zehn bis maximal 20 Prozent sehen. Klimawandel und Artensterben hat ungefähr so viel miteinander zu tun wie eine Niereninsuffizienz mit einem Herzleiden. Unser Patient Erde leidet an mindestens drei Krankheiten: Artensterben, Klimawandel, Pandemie. Und die haben primär erst einmal nichts miteinander zu tun, erschweren aber die Behandlung des Patienten. Wir haben das Problem der Pandemien, die wir durch unsere Lebensweise herauskitzeln. Das ist sozusagen unsere Leberzirrhose. Dann haben wir den Nierenschaden, das ist der Klimawandel. Für mich ist das Artensterben, die Herzschwäche also, das ganz grosse Problem. Wenn wir die Niere und die Leber behandeln, haben Sie noch die Schwierigkeit des Herztodes.
Warum schreitet das Artensterben derzeit so schnell voran?
Wir manipulieren die Lebensräume. Zwei Drittel der Erdoberfläche nutzen wir alleine für unsere Belange. Für unsere Siedlungen, Städte, Verkehrswege und vor allem für unsere Landwirtschaft. Wir haben das Problem, dass wir zwar sehr lange gebraucht haben, bis wir sehr viele geworden sind. Jetzt sind wir aber so viele, dass wir es nicht mehr in den Griff bekommen. 80 Millionen Menschen kommen jedes Jahr dazu, obwohl die Geburtenrate pro Frau seit Jahren rückläufig ist. Aber die, die jetzt erst geboren werden, haben eine zunehmend hohe Lebenserwartung. Auch in den Entwicklungsländern werden die Menschen älter. Damit nimmt die Mortalität ab. Bis Ende des Jahrhunderts müssen wir mit einer Zahl von elf Milliarden Menschen rechnen. Wir brauchen also noch mehr Lebensraum für immer mehr Landwirtschaft und unsere Nahrungsmittelproduktion weltweit. Dabei haben wir in den letzten 10.000 Jahren schon ungefähr die Hälfte der natürlichen Waldbedeckung der Erde vernichtet. Es findet also ein wahnsinniger Umbau der Erdoberfläche statt. Und damit vernichten wir die Schatzkammern der Artenvielfalt.
"Wir verlieren Arten, lange, lange bevor wir sie entdeckt haben"
Aber deswegen haben wir ja die Roten Listen.
Das Problem ist, dass wir bei den Roten Listen nur auf einen Bruchteil, nicht einmal zehn Prozent der beschriebenen Arten geschweige denn aller tatsächlich auf der Erde lebenden Arten, blicken. Das heisst, die 800 Arten, die nachweislich in den vergangenen 500 Jahren ausgestorben sind, und die, die wir überhaupt untersuchen, stellen nicht die Masse der Tiere und der Tierarten dar, die verschwunden sind oder derzeit verschwinden. Wir verlieren in den Regenwäldern also Arten, lange, lange bevor wir sie überhaupt entdeckt und wissenschaftlich beschrieben haben. Das haben wir ganz lange nicht gemerkt.
Und warum?
Die Experten nennen dieses Phänomen "Shifting Baseline". Das ist die Veränderung der Bezugsgrösse. Der Grossvater, der noch Fischen gegangen ist, hatte 1.000 Fische im Netz, sein Sohn 100 und der Enkel nur noch zehn. Aber für jeden ist die jeweilige Anzahl als Grundlinie ganz normal. Und eine Veränderung bemisst sich ja immer an der eigenen Bezugsgrösse. Man merkt also gar nicht, dass es früher einmal mehr Fische gegeben hat und es immer weniger wurden. Jede Generation schafft sich eine neue Bewertungsgrundlage.
Das ist ein bisschen wie mit den fehlenden Insekten auf der Windschutzscheibe.
Genau, das wussten wir lange anekdotenhaft. Heute können wir das mit einer Studie, der Krefelder Insektenstudie, auch quantitativ belegen. Wir können sagen, dass 78 Prozent der Fluginsekten in 40 Jahren zurückgegangen sind. Aber als diese Studie rausgekommen ist, waren alle Experten überrascht. Die konnten das zuerst kaum glauben. Ebenso haben wir auch in anderen Fällen erst in den letzten Jahren bemerkt, in wie dramatischer Weise wir viele andere Tierpopulationen eigentlich schon verändert haben. Genau genommen betreiben wir diesen Prozess schon Jahrtausende lang, nur in unterschiedlichem Masse. Doch jetzt kumuliert es. Jetzt sind die Lebensräume enger geworden. Jetzt werden immer mehr Menschen geboren. Jetzt brauchen wir immer mehr Fläche für uns. Jetzt leben wir immer weniger nachhaltig.
"Wir vergiften, was um uns herum lebt"
Wie können wir dem Massensterben noch entgegenwirken?
Das fängt bereits bei unserer Ernährung an. Zum Beispiel können wir uns bewusst machen, dass es sinnvoll ist, das heimische Rind zu nehmen und es nicht unbedingt ein argentinisches Steak sein muss. Man muss auch nicht zum Shoppen nach Nizza oder New York fliegen. Meine Nachbarn könnten ausserdem ihren Rasenmähroboter zum Baumarkt zurücktragen. Durch ihn wächst nichts mehr. Sobald sich ein Grashalm bemerkbar macht, ist der Rasenroboter schon da. Die meisten Menschen wissen nichts mehr mit Natur anzufangen. Wenn Stadtbewohner ins Grüne ziehen, vernichten sie es erst einmal. Sie schaffen alle grossen Bäume auf ihrem neuerworbenen Grundstück ab. Wir nutzen in einem nicht mehr natürlichen Verständnis unsere Umgebung. Wir vergiften, was um uns herum lebt. Jeder könnte also einmal darüber nachdenken, was er eigentlich in seinem Garten macht. Wir könnten darüber nachdenken, was unsere Gemeindevorstände eigentlich mit ihren Gemeindeflächen machen.
Und das Problem tritt ja nicht nur im eigenen Garten auf.
Das, was wir in den Gärten machen, das machen wir auch in der Landschaft. Wir schaffen grosse Strukturen, die keine kleinräumigen Bewirtschaftungen mehr zulassen. Diese sind voller Gifte und haben keine ökologische Grundstruktur mehr. Damit schaffen wir eigentlich die Tiere und die Pflanzen ab. Wir haben unsere Landschaft zerstört und zerstören sie weiter. Und wenn wir es hier bei uns nicht machen, dann exportieren wir dieses Problem in andere Länder, indem wir zum Beispiel unsere Tiere mit Soja mästen, das auf Flächen gezüchtet wird, wo vorher Regenwälder waren. Die übermässige, falsche Nutzung unserer Landschaft ist das Übel. Da müssen wir ansetzen. Wir müssen uns fragen, wie wir es schaffen, auf einer enger werdenden Erde den Tieren ausreichend Lebensraum zu lassen. Wir versuchen, das ist jedenfalls das erklärte Ziel, weltweit 30 Prozent der Erdoberfläche bis zum Jahre 2030 naturnah und naturbelassen zu gestalten.
Wie wird sich das Leben auf der Erde zukünftig verändern?
Es wird eine biologische Lösung geben. Ich würde mal sagen, die können Sie mit der Alliteration mehrerer Ks beschreiben: Es wird Kriege, Krankheiten, Katastrophen und Chaos geben. Wenn wir das Bevölkerungswachstum nicht in den Griff bekommen, wird das zu einer grösseren Ernährungsunsicherheit führen. Das wird Migration auslösen. Das wird Kriege und Verteilungskämpfe auslösen, die Krankheiten werden zunehmen. Unsere Population wird zusammenbrechen.
"Mit diesen Arten geht vielleicht auch der Mensch"
Könnte das, wie Sie es nennen, "das Ende der Evolution" sein?
Es ist wahrscheinlich, wenn wir an unserem Verhalten nichts ändern, dass das tatsächlich das Ende der Menschheit sein wird. Es ist natürlich pointiert und übertrieben zu sagen, das ist das Ende der Evolution an sich. Aber es ist das Ende jener Evolution, wie wir sie kennen – mit den vielen Lebewesen, die wir heute kennen, wie Zebras, Löwen, Tiger, Giraffen, Elefanten oder Paradiesvögel. Die wird es in ein paar Jahrzehnten nicht mehr geben. Sie werden aussterben. Selbst wenn wir überleben. Es ist das Ende der Evolution dieser Tierformen, die über viele Millionen Jahre auf der Erde entstanden sind, bis wir dazugekommen sind. Und mit diesen Arten geht vielleicht, das ist jedenfalls die Gefahr, auch der Mensch.
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Aber der Planet braucht uns im Grunde nicht, um weiter zu bestehen.
Der Planet kommt ganz wunderbar ohne uns zurecht. Wir werden natürlich Spuren hinterlassen. Im Jahr 2020 gab es mehr Masse an menschengemachten Produkten, also mehr Gebäude und Technik, als es Biomasse auf der Erde gibt. Das wird nicht einfach verschwinden, wenn wir gehen. Auch der Plutonium-Anteil in der Atmosphäre wird noch Jahrtausende lang messbar sein. Aber irgendwann werden auch diese Spuren wieder getilgt sein. Unsere Erde hat bereits wahnsinnig viele geologische Veränderungen durchgemacht. Die ist ja auch schon seit 4,5 Milliarden Jahren unterwegs. Und Massenaussterben gab es in der Evolution auch unabhängig vom Menschen. Das, was wir jetzt haben, ist das siebte. Der Meteoriteneinschlag vor 66 Millionen Jahren zum Beispiel hat nicht nur das Ende der Dinosaurier bewirkt, sondern auch das Aussterben von 70 bis 80 Prozent der Tier- und Pflanzenwelt. Es dauerte zehn bis 15 Millionen Jahre, bis sich die Erde davon erholte.
Denken Sie, dass der Mensch sich ändern wird?
Ich habe die Hoffnung, dass die Menschen in der jetzt heranwachsenden Generation über dieses Problem mehr nachdenken. Und auch entsprechend handeln. Es gibt ja hoffnungsvolle Zeichen, dass der Mensch sich verändert. Wir haben früher sehr viel mehr Kriege geführt und es gab sehr viel mehr Gewaltopfer. Wir haben unseren Wohlstand unter anderem auf Sklavenhaltertum und Kolonialismus gegründet. Lange gab es keine Gleichberechtigung. Das gilt heute als verwerflich. Die Menschheit hat gelernt und vermeidet bestimmte Verhaltensweisen. Das ist ein steter Tropfen. Es ist eine weite Reise, jeder von uns kann den ersten kleinen Schritt machen. Und wenn wir überall in unserer Wirtschaft und Lebensweise nachhaltiger werden - und das schaffen wir innerhalb einer Generation - dann haben wir schon sehr, sehr viel erreicht.
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