Am nordöstlichen Ende Russlands herrschen lebensfeindliche Bedingungen. Neun Monate im Jahr sinken die Temperaturen unter den Gefrierpunkt, im Winter sind -60 Grad Celsius keine Seltenheit. Und dennoch ist das Ostsibirische Bergland nicht einfach nur ein exotisches Reiseziel von Abenteurern, die unter Extrembedingungen ihre eigenen Grenzen austesten wollen. Hier siedeln seit vielen Jahrhunderten dauerhaft Menschen und die wenigsten von ihnen wollen ihre Heimat verlassen. Sie haben Möglichkeiten gefunden, mit den extremen Lebensbedingungen umzugehen.

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Oimjakon ist ein kleines Dorf mit gut 400 Einwohnern. Und doch zieht es das Interesse von Neugierigen aus aller Welt auf sich. Denn es gilt als der kälteste bewohnte Ort der Erde. -67,8 Grad wurden im Februar 1933 in dem Fleckchen in der russischen Teilrepublik Jakutien gemessen. Das Kältepol-Denkmal in der Ortschaft zeugt sogar von einem noch kälteren Winter. 1926 sollen die Temperaturen auf -71,2 Grad gefallen sein. Diese Angabe wird aber nicht offiziell anerkannt. Eine Wetterstation gab es 1926 nämlich noch nicht in dem Ort. Den Rekordwert errechnete damals ein russischer Wissenschaftler.

Neun Monate im Jahr Temperaturen unter Null


Im Durchschnitt zeigt das Thermometer im Ostsibirischen Bergland im Januar Werte zwischen -42 und -51 Grad an, im Sommer kann es vereinzelt wärmer als +30 Grad werden. Die Menschen, die hier aufwachsen, haben sich mit den extremen Temperaturschwankungen arrangiert. Im langen Winter können sie nicht viel machen. Die Natur steht gleichsam still. Sich längere Zeit ausserhalb der beheizten Räume aufzuhalten, ist lebensbedrohlich.

Wer seine Hände oder Ohren ungeschützt der eisigen Kälte aussetzt, riskiert in kürzester Zeit Erfrierungen. "Da reden wir von einigen Sekunden bis Minuten", sagt der Anästhesiologe Prof. Christian Byhahn. Er weiss aus eigener Erfahrung, wie sich -50 Grad Aussentemperatur anfühlen: Seit Jahren betreut der Mediziner Extremsportevents in Polarregionen.

Und die gefühlte Temperatur kann noch viel kälter sein: "In dem Moment, wo Sie auch nur die leiseste Luftbewegung haben, gibt es den sogenannten Windchill-Effekt", erklärt er: "Sagen wir mal, Sie haben moderate Minusgrade von -35 Grad und Windstärke 3, das ist eine leichte Brise. Dieser Wind, der eigentlich kaum spürbar ist, verstärkt die tatsächliche Temperatur um -15 Grad. Das heisst, die Temperatur, die auf die Körperoberfläche einwirkt, liegt dann schon bei -50 Grad." Der Windchill-Effekt kommt auch bei der Fortbewegung zur Wirkung: "Wenn Sie schnell rennen, erreichen Sie bei einem Sprint vielleicht eine Geschwindigkeit von 25 Stundenkilometern. Allein das reicht schon dafür aus, dass Sie sofort Erfrierungen bekommen", sagt Byhahn.

Die Fortbewegung ist problematisch im Ostsibirischen Bergland. Die meisten Einheimischen können ihre Autos im Winter nicht benutzen und sind damit noch eingeschränkter. Denn wenn der Motor einmal stillsteht, springt er bei den frostigen Temperaturen nicht wieder an. Beheizte Garagen sind für die Mehrheit zu teuer. Einige Jakuten, die sich den Treibstoff leisten können, lassen ihr Auto von Oktober bis April durchgängig laufen.


Beheizte Busse bringen die Kinder zur Schule. Zeigt das Thermometer Temperaturen unter -58 Grad an, dürfen sie wieder nach Hause, denn dann gibt es Kältefrei. Die eisigen Temperaturen draussen verkraften ihre Körper trotz der vielen Kleiderschichten maximal eine halbe Stunde lang. "Kinder haben im Verhältnis zu ihrem Gewicht eine grössere Körperoberfläche als Erwachsene. Das heisst, sie kühlen schneller aus", erklärt Byhahn. Darum verbringen die Kleinen auch ihre Freizeit den grössten Teil des Jahres in den beheizten Häusern.

Im Winter ist der Tagesablauf in den jakutischen Dörfern auf das unmittelbare Überleben ausgerichtet. Der Brennholzstapel im Haus schrumpft rund um die Uhr und wird täglich wieder aufgetürmt. Die Bewohner holen Eisblöcke aus dem nahegelegenen Fluss, um sie auf dem Ofen zu schmelzen. Denn unterirdische Wasserleitungen erlaubt der Permafrostboden nicht. Wenige Meter unter der Oberfläche durchzieht ihn auch bei +30 Grad im wärmsten Monat Juli eine Eisschicht. Darin bewahren die Familien auch im Sommer Lebensmittel tiefgekühlt auf.

Vieles dreht sich im Alltag der Menschen ums Essen. Denn die Natur gibt nur wenig her und der Bedarf ist durch die Kälte erhöht: "Der menschliche Körper muss seine Temperatur um die 37 Grad konstant halten", erklärt Byhahn: "Wenn die Umgebung sehr kalt ist, muss der Körper mehr Wärme produzieren. Und das verbraucht Energie." Der normale Grundumsatz an Kalorien steigt laut Byhahn bei diesen Temperaturen durchaus auf das Dreifache. "Erst recht, wenn körperliche Aktivität dazu kommt, wenn Sie bei diesen Temperaturen etwa Holz reintragen müssen", sagt Byhahn. "Wenn Sie die grossen Mengen an Essen nicht gewohnt sind, müssen Sie sich teilweise regelrecht zur Nahrungsaufnahme zwingen."

Vorbereitung auf die Kälte

Im Winter ist die Lebensmittelbeschaffung schwierig. Nicht einmal die Kühe geben Milch. Auch die Tiere sind darauf ausgerichtet, ihre Energie zu sparen und die Kälte zu überleben. Die Ställe werden nur auf etwa -5 Grad aufgeheizt. Mehrmals am Tag bringen ihnen ihre Halter geschmolzenes Eiswasser zum Trinken. Die Menschen leben von dem, was sie sich im kurzen Sommer erarbeiten.


Nur drei Monate lang, von Juni bis August, bleiben die Temperaturen über dem Gefrierpunkt. In dieser Zeit arbeiten die Menschen bis zu 18 Stunden am Tag, um sich auf den langen Winter vorzubereiten. Im Umkreis von 60 Kilometern um ihr Dorf herum mähen die Bewohner sämtliches Gras. Es muss schliesslich den langen Winter lang als Viehfutter reichen. Milch frieren die Jakuten in Form von handlichen Würfeln ein, um dieses im Winter portionsweise dem Essen beizufügen. Und im Herbst wird der Fischvorrat angelegt, der in der kalten Zeit eine wichtige Vitaminquelle ist.

Die Zeit läuft anders in Ostsibirien. Und das prägt die Menschen, die hier aufwachsen. Viele junge Leute ziehen vorübergehend in die Städte in den gemässigteren Klimazonen Russlands. Häufig ist ihre Absicht dabei, zu studieren, um das Gelernte später in ihrem Geburtsort einzusetzen - etwa als Arzt oder Lehrer. Die meisten Jakuten bleiben ihrer Heimat treu. Wer von diesem Landstrich geprägt ist, will seine Eigenheiten nicht missen.

Prof. Christian Byhahn ist Chefarzt an der Klinik für Anästhesiologie, Intensivmedizin und Schmerztherapie in Oldenburg und betreut seit vielen Jahren Expeditionskreuzfahrten und Extremsportevents in Polarregionen.


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