Ein kleines Dorf in den Walliser Bergen droht auszusterben. Bis eine Gruppe junger Einwohner vorschlägt, neue Bewohner anzulocken – mit Prämien von bis zu 25'000 Franken pro Person. Was diese Idee dann in der Welt auslöst, damit hat im Dorf niemand gerechnet.

Mehr zum Thema Gesellschaft & Psychologie

Vier Kameras sind auf ihn gerichtet. Noch mehr Mikrofone recken sich ihm entgegen, als Gemeindepräsident Beat Jost sagt: "Albinen hat die Wohnbauförderung angenommen."

Dann feuern die Journalisten ihre Fragen auf ihn ab: "Herr Jost, wie geht es Ihnen jetzt?" "Was bedeutet das nun?" "Haben Sie damit gerechnet?"

Man fühlt sich, als sässe man an einer Pressekonferenz mit mindestens einem Mitglied der Schweizer Regierung. Doch Beat Jost, der im dezent dunkelgrauen Anzug vor den Medien steht, ist schlicht Gemeindepräsident von Albinen, einem 273-Seelen-Dorf in den Walliser Bergen.

Ein kleines Dorf allerdings, das eben einen grossen Entscheid getroffen hat: Die Einwohnerinnen und Einwohner haben beschlossen, Menschen, die künftig in Albinen bauen, Geld zu geben – 25'000 Franken pro Erwachsene und 10'000 Franken pro Kind.

Sechs Monate vor der Versammlung

Den Grundstein für diesen Entscheid hatte die Gemeinde bereits im Frühling gelegt, als sie das kommunale Initiativrecht einführte. Das heisst: Einwohnerinnen und Einwohner können ein Begehren, das von einem Zehntel der Stimmbürger unterschrieben wird, vor den Gemeinderat bringen.

"Als wir jung waren, hatten wir immer das Gefühl, dass wir nichts zu sagen haben", sagt Gemeindepräsident Beat Jost, "eine politische Kultur hat vielerorts gefehlt."

Der 63-Jährige ist im Wallis geboren und vor zehn Jahren nach Albinen gezogen, ins Heimatdorf seiner Frau.

Beat Jost wollte es also anders machen, alle Menschen miteinbeziehen. Insbesondere auch die Jungen. Darum wurde der ehemalige Gewerkschaftssekretär und sozialdemokratische Abgeordnete im Walliser Kantonsparlament gemeinsam mit den Kollegen der Gemeinde-Exekutive aktiv. Sie lancierten im Dorf einen Workshop über die Zukunft des Dorfes.

Die Dorfbewohner liessen sich nicht zweimal bitten und machten engagiert mit. Daraus sind mehrere Arbeitsgruppen entstanden – und die Idee zur Wohnbauförderungs-Initiative. Das Ziel: In fünf Jahren fünf Familien als neue Dorfbewohner gewinnen. Und im besten Fall: Zehn Familien in zehn Jahren.

Dass man etwas gegen das Dorfsterben tun muss, darin waren sich alle einig. Die Zahlen sprechen für sich: Die Hälfte aller Einwohner in Albinen ist über 60 Jahre alt. Derzeit besucht noch ein Kind aus dem Dorf die Primarschule und eines den Kindergarten – beides in Nachbarsgemeinden. Denn die Schule in Albinen wurde geschlossen.

Ähnlich geht es vielen Bergdörfern in der Schweiz, die verschiedenste Lösungen gegen die Abwanderung gefunden haben.

Zehn Tage vor der Versammlung

"Würden Sie für 70'000 Franken hierhin ziehen?" So titelt wenige Tage vor der Gemeindeversammlung das Medienunternehmen Tamedia eine Geschichte über die Wohnbauförderungs-Initiative in Albinen.

Andere Schweizer Medien ziehen nach. Und kurz darauf auch die internationale Presse. Berichtet wird in Deutschland, Österreich, Frankreich, England. Ebenso in Malaysia, in der Slowakei, den Niederlanden, Mexiko, Brasilien, Kroatien, Norwegen, Indien, China.

Berichte, in denen schneebedeckten Steindächer gezeigt werden, die dunklen, vom Sonnenlicht geschwärzten Holzhäuser und die engen Gassen mit den Steinböden.

Meist erst am Schluss – wenn überhaupt – erwähnen die Korrespondenten, dass die finanzielle Unterstützung an Bedingungen geknüpft sind.

Auf das, was nun in Albinen abgeht, ist niemand vorbereitet: An die 20'000 Anfragen treffen auf der Gemeindeverwaltung ein – per E-Mail, SMS oder Brief. Darunter sind auch richtige Bewerbungsdossiers mit Fotos und Referenzen.

Manche Interessenten kommen persönlich vorbei und belagern im Dorf die kleine Gemeindekanzlei, die nur an wenigen Tagen pro Woche geöffnet hat. Einige tragen sogar Koffer, die mit ihren Kleidern gefüllt sind – und der grossen Hoffnung auf ein neues Leben.

Eine Gruppe aus Italien fragte im Dorfladen, wo man das Geld abholen könne. Andere schickten ihre Angehörigen, die bereits in der Schweiz leben, um in Albinen ein Haus zu ergattern.

Inder waren hier, Kameruner, Brasilianer. "Es ist beschämend, dass die Medien mit Menschen auf der Suche nach einer Perspektive ein so böses Spiel getrieben haben", sagt Beat Jost.

Das sei eine Entwicklung, die man so nicht abgesehen habe. Es gibt weitere Medienartikel, in denen kritische Einwohner zu Wort kommen. "Eine hirnverbrannte Idee", sei das, lässt sich jemand zitieren. In Albinen scheint die Stimmung zu drehen.

Die entscheidende Versammlung

Am Abend der Gemeindeversammlung rieselt feiner Schnee vom Himmel. Hannelore Tsokhim, die mit Mann und Sohn das bekannte Albiner Wirtshaus Godswärgjistubu führt, stapft die steile Gasse hinauf zum Feuerwehrdepot. Schneeflocken sammeln sich auf ihren Locken.

Sie sagt: "Ich weiss nicht, ob die Initiative heute angenommen wird. Viele Leute haben Angst vor Neuem oder finden es unfair, dass sie früher nicht unterstützt wurden. Doch ich finde, das Dorf braucht eine neue Perspektive."

Vor dem Gebäude, in dessen Dachstock die Versammlung stattfindet, wird Tsokhim von Kamerateams von drei Schweizer Fernsehsendern empfangen. "Es herrscht Aufbruchstimmung", sagt ein Mann zuversichtlich in eine der Kamera-Linsen und verschwindet im Feuerwehrdepot.

Als der Moment der Entscheidung gekommen ist, steht die Luft im Saal. Es mussten noch zusätzlich Stühle aufgestellt werden, weil so viele Personen gekommen sind. 104 an der Zahl – fast die Hälfte des Dorfes. Als Beat Jost das Resultat der geheimen Abstimmung verkündet, brechen die Anwesenden in Jubel aus, stampfen mit den Füssen, klatschen. 71 sagten Ja, 29 Nein. Und Beat Jost lächelt, wohl so gelöst wie seit Tagen nicht mehr.

So wie viele, die danach den stickigen Saal verlassen. Eine junge Frau sagt: "Ich bin sehr glücklich über den Entscheid. Ich denke, dass unser wunderschönes Dorf so am Leben erhalten werden kann. Albinen hat wieder eine Zukunft."

Dieser Beitrag ist Teil von #DearDemocracy, der Plattform für direkte Demokratie von swissinfo.ch. Hier äussern nebst internen auch aussenstehende Autoren ihre Ansichten. Ihre Positionen müssen sich nicht mit jener von swissinfo.ch decken.

  © swissinfo.ch

JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.