• Egal ob bei der Online-Bestellung, bei einer Bewerbung, beim Kauf von Flugtickets oder bei der Einschreibung an der Universität – eine Sache müssen wir immer angeben: unser Geschlecht.
  • Männlich oder weiblich: Wie kommt es dazu, dass in unserer Gesellschaft das Geschlecht als die soziale Kategorie schlechthin gesehen wird – und zwar von Geburt an? Ist das nicht absurd?

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"Und, was ist es?" Diese Frage ist so selbstverständlich, dass es keiner weiteren Erklärung bedarf. Es ist die Frage nach dem Geschlecht, obwohl mit keinem Wort erwähnt. Ist es ein Junge oder ein Mädchen? Nichts anderes scheint zunächst relevant zu sein.

Kurz darauf folgt dann die Frage nach dem Namen des Neugeborenen. Dabei entscheiden sich die Eltern im Jahr 2021 am häufigsten für Leon bei den Jungen und für Emilia bei den Mädchen. Der weitere Lebensweg als männlicher Leon oder als weibliche Emilia ist vorgeschrieben, so selbstverständlich ist die Zuordnung zu einem Geschlecht der damit verbundenen männlichen oder weiblichen Namensgebung.

Aus streng biologischer Perspektive besteht an dieser festgeschriebenen Kategorisierung kein Zweifel. In der radikalsten Auslegung sind die Geschlechter erstens natürlich, zweitens unveränderbar und drittens binär. Mit einfachen Worten: Abhängig von biologischen Merkmalen wird der neugeborene Leon als männlich eingestuft und bleibt es von da an auch. Das allerdings ist mit Sicherheit zu einfach gedacht. So gibt es beispielswiese von Geburt an intersexuelle Personen, oder auch Menschen, die ihr Geschlecht im Laufe des Lebens bewusst ändern lassen. Zwar mit viel Aufwand, aber somit kann der männliche Leon sehr wohl zu einer weiblichen Emilia werden und dadurch mit den gängigen biologischen Grundannahmen brechen.

Sex vs. Gender 

Die Einteilung in männlich und weiblich wird aber auch ohne die Einsicht biologischer Merkmale manifestiert. Im Alltag erfolgt diese Einschätzung nämlich meistens nicht auf Basis des biologischen Geschlechts (sex), sondern auf Grund des sozial konstruierten Geschlechts (gender). Unbewusst ordnen wir alle unsere Mitmenschen sofort in die Kategorie "Geschlecht" ein – angefangen mit dem Namen.

Begegnen wir einer fremden Person, erfolgt das Vorstellen klassischerweise über den Vornamen. Niemand stellt sich mit den Worten vor: "Hallo, ich bin ein Mann. Was bist du?" Die Geschlechtszuschreibung findet trotzdem statt: Leon ist männlich und Emilia ist weiblich. Ist es einmal nicht so eindeutig, das Geschlecht zu erkennen, sind wir oftmals überfordert, versuchen aber Widersprüche auszuschalten und uns an einzelnen Merkmalen festzuhalten. Der Vorname hat dabei einen extrem hohen Geltungsanspruch, wenn nicht sogar den grössten. Ein Leon mit langen Haaren wird meistens trotzdem als männlich interpretiert, eine Emilia im Anzug trotzdem als Frau wahrgenommen.

Neue Herausforderung für Eltern: die Namensgebung

Dass das Merkmal Name aber eines ist, welches nicht durch die eigene Person ausgewählt wurde, kann einen durchaus kritisch auf die Namensgebung von Neugeborenen blicken lassen. Es gibt soziologische Geschlechtertheorien, die im Gegensatz zur biologischen Perspektive behaupten, dass die Einteilung in Geschlechter sozialen Mustern unterliegt und Verhaltensweisen nicht geschlechterspezifisch, sondern kulturell geprägt sind.

Wenn dies der Fall ist, werden dann Neugeborene durch ihren Namen mit Beginn ihres Lebens in eine bestimmte Rolle gedrängt? Ist dann also im schlimmsten Fall alles vorbestimmt, von der Farbe des ersten Schnullers über die berufliche Anerkennung bis hin zur gesellschaftlich erwarteten Sexualität?

Um diesem Problem entgegenzusteuern, gehen immer mehr Eltern den Weg einer geschlechtsneutralen Erziehung. Angefangen mit einem Namen, der weder auf ein männliches oder weibliches Geschlecht schliessen lässt, werden die Kinder frei von jeglichen Geschlechterrollen erzogen. Sogar engen Verwandten und Freunden gegenüber wird das Geschlecht nicht kommuniziert.

Somit ist es den Kindern möglich, ihre Neigungen und Interessen frei von der geschlechtsabhängigen Stereotypisierung zu erfahren. Der oder die neugeborene Kim wird also beispielsweise nicht in geschlechtertypische Kleidung gesteckt und darf sich aussuchen, ob er oder sie lieber mit Fussball und Bagger oder mit Puppen spielt. So die Idee.

Soziale Muster oder biologische Wirklichkeit? 

Manche Geschlechtertheoretiker würden diese Theorie der geschlechtsneutralen Erziehung mit Sicherheit befürworten. Ich jedenfalls stelle mir die Frage nach der Sinnhaftigkeit der Kategorie "Geschlecht". Könnten wir unsere Gesellschaft nicht auch nach anderen, scheinbar ebenso banalen Merkmalen kategorisieren? Menschen nach der Hautfarbe und nicht mehr nach dem Geschlecht aufzuteilen, lehnt die Mehrheit ab - völlig zu Recht. Aber kann man bei der Zweigeschlechtlichkeit nicht genauso argumentieren, dass sie durch soziale Muster entstanden und somit mehr oder weniger zufällig ist?

Das gesellschaftliche Alltagswissen ist ein anderes. Das Geschlecht scheint biologisch festgelegt und schwer veränderbar, dementsprechend verhalten wir uns auch männlich oder weiblich. So eindeutig wie postuliert ist die Einteilung der Geschlechter mittlerweile aber nicht mehr. Immer mehr Menschen passen nicht in das Schema Mann/Frau. Transgender-Personen oder Geschlechtsumwandlungen gelten (zum Glück) nicht mehr als Tabu.

Wenn man also davon ausgeht, es gäbe keine biologisch eindeutigen Unterschiede zwischen Mann und Frau, wäre es dann nicht besser, die Bedeutung der Kategorie "Geschlecht" zurückzustufen? Sollte man dann nicht vermeiden, Personen nach bestimmten Mustern zu kategorisieren und ihnen somit die Zuschreibung einer bestimmten Rolle ersparen? Ein erster Schritt wäre eine passende Antwort: "Und, was ist es?" - "Wir werden sehen ..." 

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