Am Internationalen Frauentag am 8. März werden weltweit die sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Errungenschaften der Frauen gefeiert. Einiges ist geschafft – vollkommen gleichberechtigt sind Frauen allerdings noch lange nicht. Der Tag gilt deshalb auch als ein Aufruf zum Handeln, um die Gleichstellung der Frauen zu beschleunigen.
Wie die Gleichstellung vorangetrieben werden kann und wo noch die grössten Stellschrauben sind - darüber spricht die Erziehungs- und Sozialwissenschaftlerin Barbara Thiessen im Interview. Sie lehrt Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Beratung unter besonderer Berücksichtigung der Geschlechterverhältnisse an der Universität Bielefeld. Im Gespräch beantwortet sie auch die Frage, ob es angebracht ist, dass Männer Frauen zum Weltfrauentag Blumen schenken und erzählt, weshalb Gleichberechtigung auch für Männer Vorteile hat.
Frau Thiessen, den Internationalen Frauentag gibt es seit vielen Jahrzehnten. Einiges hat sich bereits geändert, unter anderem dürfen Frauen wählen. Und doch sind Frauen in vielen Bereichen noch nicht gleichberechtigt…
Barbara Thiessen: Damals ging es vor allem um die Situation der Arbeiterinnen, um Ausbeutung, insbesondere auch von Frauen mit Migrationsgeschichte in den Fabriken, und um gleichen Lohn für gleiche Arbeit. Das sind Forderungen, die bis heute noch nicht vollständig eingelöst sind. Wir haben bis heute den Gender Care Gap. Frauen machen immer noch 44 Prozent mehr Care-Arbeit. Das wirkt sich aus auf die Erwerbsarbeit. Frauen haben dadurch weniger und schlechter bezahlte Arbeit, das zeigt sich im Gender Pay Gap. Und am Ende führt das zusammen zum Gender Pension Gap, das bei fast 60 Prozent liegt. [Das heisst, in Deutschland beziehen Frauen um 59,6 Prozent geringere eigene Alterssicherungseinkommen als Männer.]
Wir haben in Deutschland noch sehr konservative Geschlechterbilder im europäischen Vergleich. Wir meinen immer, wir wären doch schon ganz weit vorne, sind wir aber nicht, wie der aktuelle Bericht der Weltbank zeigt. Hier kommt Deutschland in puncto Gleichberechtigung von 100 Punkten nur auf 85.
Warum sind wir denn nach mehr als 100 Jahren Internationalen Frauentag noch immer nicht komplett gleichgestellt?
Der erste Schritt der Diskussion war die Frage, ob "Weiber" Menschen seien. Und dann kam die Frage, welche Rechte Frauen haben. Um 1800, als die Bürgerrechte proklamiert wurden, waren von diesen Bürgerrechten - Liberté, Egalité, Fraternité, also Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit - die Frauen ausgeschlossen, und zwar qua Natur. Einerseits haben wir in der Moderne die Idee von Bürgerrechten und Menschenrechten entwickelt, aber Frauen wurden mit dem Naturargument ausgeschlossen. Bis heute ist das ein entscheidender Punkt: Frauen sind die anderen, die wollen lieber zu Hause bleiben, die sind natürlich untergeordnet. Und bis diese Denkweise aus den Köpfen kommt, dauert das.
Benachteiligung ist vielen Frauen nicht immer bewusst
Ist diese Denkweise denn noch in vielen Köpfen?
Wir haben heute noch in der katholischen Kirche den Ausschluss von Frauen aus dem Priesteramt. In vielen Bereichen meint man immer noch, dass Männer irgendwas besser könnten. Auch diese Idee, dass Kinder nicht Kinder sind, sondern als Mädchen und als Jungen erzogen werden, impft sozusagen immer diese Differenzvorstellung ein und tradiert sie weiter.
Zugleich sorgen differente Geschlechtermuster für Klarheit und Orientierung. Es hat Vorteile, wenn man nicht alles diskutieren muss. Fragen wie: Wer trägt welchen Namen bei der Eheschliessung, wer bleibt zu Hause, wenn Kinder da sind? Aber diese Geschlechterdifferenz führt zu Ungleichbehandlung. Das ist lange auch im Recht festgeschrieben gewesen. Bis 1977 besagte das Familienrecht, dass Frauen nur erwerbstätig sein konnten, wenn der Ehemann zustimmte. Oder sie konnten kein eigenes Girokonto eröffnen. Wir haben bis heute noch keine reproduktiven Rechte für Frauen. Da sind wir in Deutschland noch weit davon weg.
Was genau meinen Sie damit?
Reproduktive Rechte heisst Selbstbestimmung, was den eigenen Körper anbelangt. Zu sagen, will ich ein Kind oder will ich kein Kind? In Deutschland ist diese Entscheidung strafbewehrt. Schwangerschaftsabbruch ist in Deutschland strafbar. Auf Strafverfolgung wird verzichtet, wenn Fristenregelungen eingehalten wurden und ein Beratungsschein vorliegt. Aber es bleibt eine Straftat. Was dazu führt, dass es immer weniger Ärztinnen und Ärzte gibt, die das überhaupt machen wollen, weil sie bei Schwangerschaftsabbruch immer am Rande der Rechtswidrigkeit stehen. Daher ist dieser Eingriff auch nicht selbstverständlicher Teil der gynäkologischen Ausbildung. Das hat Folgen. In Deutschland werden immer noch veraltete Methoden eingesetzt. Hier ist vielen Frauen nicht bewusst, wo überall Benachteiligung lauert. Wir denken, wir sind bereits gleichgestellt. Aber wenn eine Frau schwanger wird und abtreiben möchte, merkt sie, dass noch vieles im Argen liegt.
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Grossteil der Care-Arbeit wird von Frauen gestemmt
Wie sieht es mit Frauen aus, die sich für Kinder entscheiden?
Wenn Frauen Kinder bekommen, gehen alle davon aus, dass sie dafür zuständig sind. Das legen auch die rechtlichen Regelungen nahe. Je höher der Unterschied des Einkommens ist, desto höher ist der Vorteil beim Ehegattensplitting. Es wird also staatlich belohnt, wenn ein Partner zu Hause bleibt oder nur einen Minijob macht. In den meisten Fällen sind das Frauen. Das führt dann häufig zu Altersarmut und kann als mittelbare Diskriminierung bezeichnet werden.
Was genau versteht man darunter?
Es gibt keine unmittelbare Diskriminierung mehr. Im Gesetz steht nicht, dass Frauen nicht erwerbsfähig sein dürfen, wenn der Ehemann das nicht möchte. Mit dem Ehegattensplitting haben wir aber einen ähnlichen Effekt. Nämlich, dass wir nach wie vor so leben wie in den 50er- oder 60er-Jahren. Ein Grossteil der Frauen ist für die gesamte Care-Arbeit zuständig, für Kinderbetreuung oder Angehörigenpflege. Es werden die Mütter angerufen, wenn die Kindertagesstätte vorzeitig schliesst, nicht die Väter.
Ein weiterer Aspekt, der beim Weltfrauentag in den Fokus rücken soll, ist Gewalt gegen Frauen…
Die Gewalt gegen Frauen ist anhaltend gross. Jeden Tag gibt es einen tödlichen Angriff eines (Ex-)Partners gegen eine Frau. Jeden dritten Tag gelingt solch ein Angriff. Das sind mehr als 100 Femizide in Deutschland pro Jahr. Immerhin wird kaum noch über Familientragödien oder Beziehungstragödien gesprochen. Aber wir haben bis heute - nach 40 Jahren Frauenhausbewegung - immer noch keine Finanzierung von Frauenhäusern, die gesetzlich geregelt wäre.
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Es sind viele verschiedene Themenfelder, in denen Frauen auch heute noch benachteiligt sind. Gibt es Ihrer Meinung nach ein besonders grosses Defizit oder eine besonders grosse Stellschraube?
Was private Care-Arbeit anbelangt und die mangelnde finanzielle Absicherung von Frauen, die den Hauptteil von Care-Arbeit übernehmen, bräuchten wir zumindest eine Absicherung der Rente von Frauen. Derzeit gehen viele Frauen mit einer grossen Rentenlücke in den Ruhestand. Besser wäre, das Ehegattensplitting abzuschaffen und stattdessen die Idee des Universal Care Givers zu etablieren. Das bedeutet, dass wir alle – Männer und Frauen – in unserem Leben sowohl erwerbstätig sind als auch für Care-Aufgaben zuständig sind, sei es für die Versorgung von Kindern, die Pflege von Angehörigen oder für nachbarschaftliches Engagement im Viertel.
Auch Männer können Feministen sein
Was Sie da ansprechen, sind zu einem grossen Teil politische Entscheidungen. Was kann jeder Einzelne aktiv tun für mehr Gleichberechtigung?
Männer können den feministischen Kampftag unterstützen – viele machen das bereits. Sie können in ihrem privaten Lebenskreis prüfen, an welchen Stellen mehr Gleichberechtigung vielleicht auch für eine bessere Beziehung sorgen kann. Dafür können Männer aktiv mit ihrer Partnerin darüber sprechen, wie sie Aufgaben im Haushalt oder bei der Kinderbetreuung fair verteilen. An der Stelle könnten sie sich auch überlegen, wo sie beruflich zurücktreten können, damit sich die Partnerin stärker beruflich engagieren kann. Es geht um eine gleichberechtigtere Aufteilung von Care-Arbeit und Erwerbsarbeit. Das ist nicht nur ein Gewinn für Mütter, sondern auch Väter: Sie sind dadurch stärker in den Alltag ihrer Kinder eingebunden und erleben das Aufwachsen ihrer Kinder intensiver mit. Oder wenn in der Familie ein Pflegefall auftritt, sollten Männer die Pflege nicht den Frauen überlassen, sondern sich genauso engagieren.
Und abgesehen vom privaten Umfeld?
Männer können sich unter anderem auch am Arbeitsplatz aktiv für Frauen einsetzen. Beim nächsten sexistischen Witz, den ein Kollege macht, nicht mitlachen, sondern sagen, dass es nicht lustig ist. Oder wenn eine Frau in der U-Bahn angemacht wird, einschreiten. Es gibt so viele Möglichkeiten und Situationen im Alltag, wo Männer für Gleichberechtigung sorgen können. Als Führungskraft oder Arbeitgeber kann ich mir zum Beispiel die Frage stellen: Wo sorge ich für berufliche Aufstiege von Frauen? Kann ich den Gender-Pay-Gap unterbinden und will ich an einem Podium, das ausschliesslich mit Männern besetzt ist, teilnehmen? Zudem gibt es die UN-Initiative HeForShe für feministisches Engagement von Männern.
Blumen zum Weltfrauentag? "Gedankenlos und ärgerlich"
Sie haben viele Möglichkeiten aufgezählt, wie Männer sich aktiv für Gleichberechtigung einsetzen können. Manche denken vor allem am Weltfrauentag daran – und schenken Frauen als nett gemeinte Geste Blumen und gratulieren. Doch bei einigen Frauen kommt das gar nicht gut an…
Wenn ich in der Geschlechterhierarchie unten stehe und dann noch Blümchen bekomme, ist das keine gute Idee. Es ist gedankenlos und ärgerlich. Das ist, wie wenn ich am internationalen Tag gegen Rassismus der schwarzen Kollegin im Team Blumen mitbringe. Was für eine blöde Idee. Und am nächsten Tag mache ich wieder eine rassistische Bemerkung… Darum: Lieber ernsthaftes Engagement und Ideen für mehr Gleichberechtigung statt Blumen.
Der Weltfrauentag bekommt sehr viel Aufmerksamkeit. Es gibt auch einen Weltmännertag, der den Fokus auf Männergesundheit legt – allerdings bei weitem nicht so viel Beachtung erhält wie der Weltfrauentag. Wenn das jemand kritisiert – was würden Sie entgegnen?
Es geht um Ungleichheiten im Geschlechterverhältnis. Frauen sind in vielen Punkten benachteiligt. Beim Weltfrauentag geht es grundsätzlich darum, Ungleichheiten anzugehen. Und auch Männer können unter patriarchalen Strukturen leiden.
Inwiefern?
Männer werden dazu erzogen, kaum Emotionen zu zeigen, in Beziehungen weniger zu kommunizieren, ihren Körper eher als Maschine zu verstehen, weniger auf Krankheiten zu achten oder als Jugendliche oder junge Männer Risikobereitschaft zu zeigen. Das tut Männern nicht gut. Letztendlich führt das bei ihnen zu einer geringeren Lebenserwartung. Deshalb ist es richtig, dem auch Aufmerksamkeit zu geben. Stichpunkt Männergesundheit: Müssen Männer eigentlich ihre Depression aushalten und die Zähne zusammenbeissen? Wäre es nicht gut, wenn wir eine Gesellschaft wären, in der Männer nicht wegen ihrer Depressionen verlacht werden, sondern adäquate Behandelung bekommen? Auch Männern würde eine gleichberechtigtere Gesellschaft zugutekommen. Leider wissen nur viele Männer nicht, dass ihre Lebensqualität besser sein könnte, wenn sie gleichberechtigter leben würden.
Zur Gesprächspartnerin
- Prof. Dr. Barbara Thiessen ist Professorin für Erziehungswissenschaft an der Universität Bielefeld. Ihr Schwerpunkt liegt auf Beratung unter besonderer Berücksichtigung der Geschlechterverhältnisse. Sie forscht unter anderem zu Beratung in Sozialer Arbeit und in Bildungskontexten, Geschlechterstudien im Kontext von Care und Familie, Theorien und Methoden gendersensibler Beratung sowie Organisationsdynamiken insbesondere im Hinblick auf Diversität und Gleichstellung.
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