Machen Mädchen ihre Brüder stärker? Sind die Älteren wirklich klüger, die Jüngeren mutiger? Was die Psychologie über den Einfluss der Geschwisterreihenfolge weiss.
Das erste Kind bekommt immerhin eine Zeit lang die ungeteilte Fürsorge und Aufmerksamkeit der Eltern: mehr malen, mehr basteln, beste Entwicklungschancen. Deshalb sind sie: die Klugen. Die Letztgeborenen hingegen, die bei Familientreffen die dollste Betüddelei der Grosseltern ernten, das sind: die Verwöhnten. Und die dazwischen, die Sandwich-Kinder, vermitteln bei Konflikten zwischen Klein und Gross. Sie sind: die Diplomatischen. Das zumindest ist eine weitverbreitete Annahme darüber, wie die Rollen zwischen Geschwistern verteilt sind.
Doch stimmt das überhaupt? Hat die Reihenfolge der Geburten einen Einfluss auf die Persönlichkeit von Geschwistern? Und wenn ja, wie genau?
"Im Durchschnitt sind Erstgeborene – die in der Regel als Ersatzeltern fungieren – gewissenhafter als Nachgeborene, während Nachgeborene angenehmer, extrovertierter und unangepasster sind."
Psychologinnen und Psychologen haben sich in den vergangenen Jahren intensiv mit der These von Klugen, Diplomaten und Verwöhnten auseinandergesetzt und sie auf ihre Richtigkeit geprüft. Vor allem seit sie Mitte der 1990er-Jahre durch die Arbeiten des US-amerikanischen Psychologen Frank Sulloway grossen Ruhm erlangte.
In seinem Buch "Born to Rebel" beschrieb er 1996 seine Forschungsergebnisse zur Geburtsreihenfolge. In einem 2001 erschienenen Artikel fasste er seine Ergebnisse so zusammen: "Im Durchschnitt sind Erstgeborene – die in der Regel als Ersatzeltern fungieren – gewissenhafter als Nachgeborene, während Nachgeborene angenehmer, extrovertierter und unangepasster sind."
Sulloways Thesen lösten eine Debatte aus. Nicht wenige Forscherinnen und Forscher widersprachen. Das Problem war jedoch, dass das, was im Alltag so auf der Hand liegen mag, nämlich die geschwisterlichen Persönlichkeitsunterschiede, wissenschaftlich gar nicht so leicht zu untersuchen ist.
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Ist also gar nichts dran am Einfluss der Geschwisterreihenfolge auf den Charakter?
Es gibt zwei Wege, es anzugehen:
- Entweder schauen sich Forschende in riesigen Datensätzen verschiedene Persönlichkeitsvariablen an und werten sie daraufhin aus, ob sich die Werte von Erstgeborenen von denen von Zweit- oder Letztgeborenen unterscheiden. Dazu brauchen sie aber erst mal entsprechende Datensätze von Tausenden, besser Zehntausenden Personen.
- Oder sie führen eigene Studien mit Geschwistern durch. Aber gerade im Kinder- und Jugendalter und auch noch bei Erwachsenen verändert sich die Persönlichkeit über die Zeit hinweg. Nicht so sehr, dass sie plötzlich ins Gegenteil umschlagen würde. Aber doch so, dass ein paar Jahre im Lebenslauf von Geschwistern einen messbaren Unterschied machen können. Für die Forscher heisst das, dass sie in ihren Studien die Persönlichkeit der später geborenen Geschwister erst dann testen dürften, wenn diese genauso alt sind wie die Erstgeborenen. Will man auch hier möglichst viele Studienteilnehmende haben, steigt der Aufwand schnell ins Nicht-mehr-Machbare.
Es gibt Studien, in denen Forscherinnen und Forscher den Einfluss des Alters auf die Persönlichkeitsentwicklung ignorierten. Deren Aussagekraft muss allerdings bezweifelt werden. Zweijährige und Sechsjährige unterscheiden sich nun einmal stark.
Eine sehr ausführliche Studie haben vor einigen Jahren zwei Forscher und eine Forscherin der Unis Leipzig und Mainz durchgeführt, die Ergebnisse erschienen im Fachmagazin PNAS. Sie analysierten Daten der britischen National Child Development Study des US-amerikanischen National Longitudinal Survey of Youth und des deutschen Sozio-ökonomischen Panels (SOEP). Bei allen handelt es sich um landesweite Erhebungen, in denen die insgesamt mehr als 20.000 Teilnehmer zahlreiche Fragebögen beantworteten, darunter auch Persönlichkeits- und Intelligenztests.
Nach ihren umfangreichen Datenauswertungen kamen die Forschenden in ihrer Studie zu dem Schluss, "dass die Reihenfolge der Geburt keinen bedeutsamen und dauerhaften Einfluss auf die breit gefächerten Big-Five-Persönlichkeitseigenschaften ausserhalb des intellektuellen Bereichs hat". Big Five, das sind Extraversion, emotionale Stabilität, Verträglichkeit, Gewissenhaftigkeit und Offenheit für neue Erfahrungen – fünf Dimensionen, die man heute klassischerweise untersucht, wenn es um die Persönlichkeit geht.
"In verschiedenen Studien haben wir gesehen, dass Erstgeborene tatsächlich ein bisschen intelligenter sind."
Ist also gar nichts dran am Einfluss der Geschwisterreihenfolge auf den Charakter? Julia Rohrer, Autorin der Studie und Persönlichkeitspsychologin an der Universität Leipzig, sagt dazu: "Bezogen auf die Persönlichkeit im Erwachsenenalter scheint die Reihenfolge der Geburten so gut wie keinen Effekt zu besitzen."
Ähnlich, aber vielleicht etwas anders scheint es bei der Intelligenz zu sein: "Hier gibt es zwar kleine, aber dennoch immer wieder beobachtbare Effekte", sagt Julia Rohrer. "In verschiedenen Studien haben wir gesehen, dass Erstgeborene tatsächlich ein bisschen intelligenter sind." Mit jedem weiteren Geschwisterkind nehme der IQ um ein bis zwei Punkte ab. "Der Effekt ist da, aber es ist ein wirklich extrem kleiner Effekt", sagt Rohrer. Womöglich fällt er im Alltag gar nicht auf. Denn es handelt sich bei den Werten um Mittelwerte – man kann daraus also nicht schliessen, dass alle Erstgeborenen ein paar IQ-Punkte mehr besitzen.
Was das für die Praxis bedeutet, das haben Rohrer und ihre Kollegen und Kolleginnen in den SOEP-Daten ausgerechnet. Dazu untersuchten sie, wie oft die Erstgeborenen einen etwas höheren IQ als die Zweitgeborenen hatten, wenn es kein drittes Geschwisterkind gab. Das war in 60 Prozent der Fälle so. "Das ist in der Tat überzufällig häufig", sagt Rohrer, "es bedeutet aber eben auch, dass in 40 Prozent der Fälle der Zweitgeborene klüger ist."
Wie beeinflusst das Geschlecht der Geschwister die Entwicklung?
Die Geburtsreihenfolge hat also – das weiss die Forschung heute – keinen bedeutsamen Einfluss auf die Persönlichkeit und nur einen minimalen Einfluss auf die Intelligenz.
Und doch gibt es einen anderen Geschwister-Faktor, der eine Rolle spielen könnte: Möglicherweise hat das Geschlecht von Geschwistern einen Einfluss darauf, wie sich Kinder entwickeln. Die Ideen dazu gehen in beide Richtungen: Jungs mit Schwestern könnten durch den femininen Einfluss später im Leben verträglicher und weniger auf männliche Klischees festgelegt sein.
Oder: Jungs mit Schwestern grenzen sich ab, spielen auf keinen Fall mit Puppen und werden später risikobereiter. Vergangenes Jahr veröffentlichte Rohrer mit Kollegen die Ergebnisse einer Auswertung im Fachmagazin "Psychological Science". Die Forschenden werteten Daten von etwa 85.000 Personen aus. Das Ergebnis: "Keine Hinweise auf einen Einfluss des Geschlechts der Geschwister auf die Persönlichkeit."
Dennoch sagt Julia Rohrer: "Ich bin mir relativ sicher, dass das Geschlecht von Geschwistern einen Einfluss auf die Entwicklung hat." Welcher das sein soll? "Mir erscheint ziemlich robust, was Ökonomen mehrfach gefunden haben", sagt Rohrer, "nämlich, dass es eine Brother Earnings Penalty gibt."
Übersetzt heisst das: Frauen, die einen jüngeren Bruder haben, verdienen weniger im Vergleich zu Frauen, die eine jüngere Schwester haben. Etwa sieben Prozent weniger – wie eine vor drei Jahren in "Labour Economics" erschienene Studie zeigte. In derartigen Studien werden auch deshalb nur jüngere, nicht ältere Brüder betrachtet, weil das Geschlecht des älteren Kindes einen Einfluss auf die Entscheidung der Eltern für ein zweites haben könnte – das könnte die Ergebnisse verzerren. Dieses Problem hat man nicht, wenn man nur den Effekt jüngerer Geschwister betrachtet.
Kümmern sich Väter mehr um Söhne und Mütter mehr um Töchter?
Die Arbeit zeigte jedenfalls, dass Mädchen mit jüngerem Bruder eher traditionelle Geschlechterrollen und Verhaltensweisen entwickeln, später auch häufiger traditionell weibliche Berufe wählen und sogar Männer mit traditionell eher männlichen Berufen heiraten. Andere Studien haben ähnliche Ergebnisse erbracht.
"Eine mögliche Erklärung könnte darin liegen, wie die Eltern sich die Betreuungszeit aufteilen, wenn ein zweites Geschwisterkind kommt", sagt Rohrer. "Womöglich gibt es eine natürliche Tendenz, dass die Mutter sich um die Tochter kümmert und der Vater mehr Zeit mit dem Sohn verbringt. Das könnte die Rollenbilder verstärken." Demnach sind Mädchen mit jüngeren Brüdern mehr vom Rollenbild ihrer Mutter geprägt. Tatsächlich scheint der Effekt in besonders traditionellen Familien deutlicher zu sein.
Doch auch hier sind die gemessenen Effekte klein. Das Verhalten der Eltern, des Freundeskreises, aber auch Geld und Gene dürften einen weitaus grösseren Effekt auf das Wesen eines Menschen haben. Und dennoch scheint die Frage, wer wir sind und wer wir werden, wenigstens zu einem kleinen Teil auch davon abzuhängen, wer unsere Geschwister sind und wann im Leben sie sich zu uns gesellen.
Verwendete Quellen:
© RiffReporter
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