Viele Menschen berichten von aufwühlenden Träumen seit Beginn der Coronavirus-Pandemie. Eine Traumforscherin und Psychotherapeutin verrät, was Träume uns sagen möchten – und wie man mit ihnen umgeht.

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Ausgangsbeschränkungen, finanzielle Sorgen, Einsamkeit und Angst vor Krankheit und Verlust – das Coronavirus und die Massnahmen zur Eindämmung der Pandemie haben vieles auf den Kopf gestellt. Die Angst vor der unsichtbaren Gefahr und die vor den Folgen des wirtschaftlichen Stillstandes begleitet viele Menschen – auch in die Nacht.

Eine Umfrage der Harvard Medical School bestätigt, dass seit Beginn der Anti-Corona-Massnahmen weltweit auch intensiver geträumt wird. Ähnliches konnten die Wissenschaftler nach den Terroranschlägen vom 11. September in New York beobachten.

Auch am Lyon Neuroscience Research Center in Frankreich beobachten die Leiter einer seit März 2020 laufenden Studie, dass 35 Prozent der Teilnehmer sich intensiver an ihre Träume erinnern. 15 Prozent berichten von negativen Träumen.

Ausschlafen führt zu längeren Traumphasen

Durch Träume werden Emotionen und Erlebtes verarbeitet. Auch ein verändertes Schlafverhalten kann dazu führen, dass intensiver geträumt wird, beziehungsweise dass man sich an einen Traum erinnert. Muss der Wecker etwa durch Kurzarbeit nicht mehr gestellt werden, werden auch die traumbegleitenden REM-Phasen (Rapid-Eye-Movement) häufiger und ausgedehnter.

Diese Phasen, in denen das Gehirn besonders aktiv ist, wiederholen sich alle 90 Minuten. Zum Morgen hin werden die REM-Phasen länger, die Traumperioden intensiviert. Wacht man nach einer REM-Phase auf, erinnert man sich an den Traum.

Die Psychotherapeutin und Traumforscherin Brigitte Holzinger führt aktuell eine Studie zum Thema Träumen und Schlafen während der Coronakrise durch. Als Leiterin des Wiener Instituts für Bewusstseins und Traumforschung und als Schlafcoach befasst sie sich seit über 30 Jahren mit Träumen und Schlaf.

Frau Holzinger, träumen wir jede Nacht und vergessen unsere Träume nur?

Brigitte Holzinger: Soweit wir wissen, träumen wir jede Nacht. Es scheint, als würde der Traum schon bewirken, was er möchte – auch wenn wir uns nicht daran erinnern.

Würden wir uns an alle Träume erinnern, wären wir wahrscheinlich heillos überfordert. Der Traum ist eine Art von Verarbeitung von sinnlich Wahrgenommenem. Auch tagsüber filtern wir bereits, was wir bewusst wahrnehmen.

Beim Traum sehe ich es mit der Filterfunktion des Vergessens ähnlich. Diese ist sinnvoll, weil wir auch unbewusst verarbeiten. Es braucht offenbar nicht bei jeder Wahrnehmung Bewusstsein. Wir tragen automatische Wahrnehmungsprozesse ins uns, die sehr ökonomisch sind.

Stichpunkt Träume sind Schäume – tobt sich das Hirn nachts auch mal kreativ aus? Oder ist jeder Traum ein Hinweis unseres Unterbewusstseins?

Aus Sicht der Traumforschung ist der Traum etwas Kostbares und eine Art biologischer und lebensnotwendiger Vorgang – und eine riesige Ressource, die wir leider vernachlässigen.

"Träume sind Schäume" wäre eher ein Ausspruch aus früheren Zeiten, in denen man sich selbst mehr übergangen hat, als wir das heute tun. Von Seiten der Traumforschung besteht die Hoffnung, dass, wenn wir die Träume ernster nehmen, wir uns auch selber ernster nehmen.

Heisst das, man sollte jeden Traum ernst nehmen?

Nicht jeder Traum ist ein Hinweis darauf, dass ein Problem vorliegt. Es können auch ganz normale Verarbeitungsprozesse sein, die man sich bewusst machen kann.

Lebhafte Träume als "Krisen-Management des Hirns"

Aktuell berichten viele Menschen von sehr intensiven Träumen. Angst vor finanzieller Unsicherheit, Krankheit, Verlust. Sind diese lebhaften Träume eine Art Krisen-Management des Hirns?

Das haben Sie schön gesagt. Ich würde sagen, dass wir versuchen, während der Nacht mit dieser neuen Situation und der Bedrohung fertig zu werden und uns da einzufinden und zu bewältigen, was die Situation möglicherweise für Ängste bewirken mag.

Wie geht man am besten mit Träumen um, jetzt wo es im Unterbewusstsein heftig brodelt?

Holen Sie den Traum nach dem Aufwachen noch einmal sinnlich in Erinnerung und fassen Sie diese Bilder in Worte, etwa indem Sie diese aufschreiben oder jemandem erzählen. Dann kann man diesen in Bildern dargestellten Empfindungen noch einmal nachgehen.

Das kann dabei helfen, sie rascher zu verarbeiten. In der Traumarbeit haben wir etwas entwickelt, das wir "Dream Sense Memory" nennen.

Dabei geht es darum, den Traum sinnlich zu erschliessen, also weniger intellektuell. Ihn noch einmal nachzuerleben und nicht unbedingt zu interpretieren. Nachfühlen, womit sich von der Empfindung her diese Bilder beschäftigt haben.

Von Traumdeutung anhand von Symbolen halten Sie dementsprechend nicht allzu viel?

Da haben Sie Recht, die Bilder können trügerisch sein. Es kann beispielsweise eine Person im Traum vorkommen, die gar nicht gemeint ist, jedoch einen Zugang zu einem Thema des Träumers darstellt.

Eigentlich kann nur der Träumer selbst den Traum erschliessen, denn nur er hat ihn schliesslich geträumt. Allzu sehr sollte man sich von Traumdeutung anhand von Symbolen also nicht beeindrucken lassen, sie eher als eine Art Inspiration sehen.

Was raten Sie, wenn Träume das Wohlbefinden auf Dauer beeinträchtigen. Und ab wann sollte man Hilfe suchen?

Der Prozess des Träumens an sich ist eine kleine Psychotherapie. Deshalb wird sich diese Phase wieder so einpendeln, dass man sich nur wieder ab und an an einen Traum erinnern wird. Zwischendurch werden auch wieder schöne Träume vorkommen, die die Stimmung heben.

Führen Albträume zwei- bis dreimal pro Woche dazu, dass man nachts aufwacht, und möchte man das Schlafen deshalb am liebsten vermeiden, sollte etwas unternommen werden. Denn Schlaf hält uns und unser Immunsystem gesund.

Und ein starkes Immunsystem brauchen wir in Zeiten von COVID-19 alle …

Genau. Deshalb ist es aus Sicht der Traumforscher so wichtig, dass wir uns mehr dem Schlaf und dem Träumen zuwenden und verstehen, wie lebensnotwendig diese Vorgänge sind.

Schlaf als Luxusgut, nicht als Notwendigkeit?

Unbedingt. Es gibt auch Kollegen, die behaupten, guter Schlaf ist der neue Luxus. Im Schlaf schaffen wir die besten Vorraussetzungen dafür, dass wir körperlich gesund bleiben können.

"Traum nachgehen und in Worte fassen"

Was kann man tun, wenn man das Gefühl eines Traums den gesamten Tag nicht loswird, weil er so intensiv war?

Wie bereits beschrieben: Dem Traum nachgehen, versuchen, die Bilder und Prozesse in Worte fassen und diese zum Ausdruck bringen. Das Thema noch einmal durchzuarbeiten, wird als sehr entlastend empfunden und hilft, es leichter ad acta legen zu können.

Es ist immer gescheiter, sich mit Ängsten zu beschäftigen und die Angst zu konfrontieren. Denn Angst vor der Angst macht die Angst nur stärker – das gilt auch für einen quälenden Traum.

Sollte man sich für mehr Entspannung eine gewisse Schlafhygiene angewöhnen?

Es wäre günstig, möglichst regelmässig schlafen zu gehen und aufzustehen, denn dann kann sich die innere Uhr bestmöglich auf Schlaf einstellen kann. Auch lohnt es sich, die individuelle Schlafenszeit herauszufinden: bin ich eher ein Morgenmensch oder ein Abendmensch? Welche Schlafdauer ist für mich ideal?

Über die Expertin: Dr. Brigitte Holzinger aus Wien ist Psychotherapeutin, Schlafforscherin und Autorin zahlreicher Sachbücher zum Thema Schlaf. Sie leitet das Institut für Bewusstseins- und Traumforschung in Wien, das umfassende Forschungsprojekte, Vorträge und Symposien durchführt. Als Schlafcoach begleitet sie Menschen auf dem Weg zu einem langfristig verbesserten Schlaf und bildet Teilnehmer im Rahmen einer von der medizinischen Universität Wien akkreditierten Zertifikatsausbildung zum Schlafcoach aus. Zudem ist sie Entwicklerin der App "DreamSenseMemory".

Verwendete Quellen:

  • Lyon Neuroscience Research Center
  • Los Angeles Times Online: You’re not imagining it: We’re all having intense coronavirus dreams
  • National Geographic: The pandemic is giving people vivid, unusual dreams. Here’s why.
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