Die Schmerzen aus jungen Jahren begleiten viele von uns ihr Leben lang. Wie lässt man das, was in der Kindheit und mit den Eltern falsch gelaufen ist, hinter sich und durchbricht ungesunde Muster? Wie schafft man es, Frieden mit der Vergangenheit und vielleicht auch mit den eigenen Eltern zu schliessen? Eine Psychotherapeutin über den Weg der Heilung - und die Stolpersteine.
Frau Boger, was halten Sie von dem Satz "Meine Eltern sind schuld daran"?
Katrin Boger: Damit tue ich mich schwer. Schuld bedeutet für mich, dass ich jemandem in vollem Bewusstsein Schaden zufüge. Natürlich gibt es Eltern, die ihren Kindern bewusst schaden. Meine Erfahrung ist aber, dass ein Grossteil der Eltern das in ihren Möglichkeiten Bestmögliche getan haben. Viele von ihnen waren selbst Opfer und konnten aufgrund ihrer eigenen Schwierigkeiten und Probleme nicht anders reagieren. Das ist keine Entschuldigung, aber eine Erklärung.
Was bringt es, das Verhalten der Eltern erklären zu wollen?
Das Ziel der Psychotherapie ist, nachvollziehen, warum die Eltern sich so verhalten haben. Das Verhalten der Eltern hat etwas mit ihrer Lebensgeschichte zu tun. Es geht nicht darum, etwas zu entschuldigen oder zu rechtfertigen, sondern es zu verstehen. Dadurch gibt man ihnen auch die Verantwortung zurück für das, was passiert ist. Wie ich selbst damit umgehe und künftig damit umgehen werde, ist meine eigene Verantwortung.
Kann man also nur heilen, wenn man dieses Schuldthema hinter sich lässt?
Schuld ist bei der Aufarbeitung ein sehr grosses Thema. Bei meinen Patienten ist dieses Thema oft zu Beginn da, von beiden Seiten. Viele Eltern sagen "Ich bin schuld, dass mein Kind jetzt leiden muss". Betroffene sagen "Meine Eltern sind schuld, dass ich so verkorkst bin". Da spielen oft auch Hass und Rachegedanken mit hinein. Der Prozess, in den ich mit meinen Patienten dann gehe, ist, genau zu sortieren, was zu dem Zeitpunkt war, als bestimmte Ereignisse stattfanden. Was war in vollem Bewusstsein und inwiefern haben bestimmte Umstände dazu geführt? Denn die Frage nach Schuld verhindert eine wirkliche Verarbeitung, ein Loslassen, ein Integrieren dieser Erfahrungen.
Das ist bestimmt nicht einfach. Wenn man diesen Punkt erreicht hat, sollte man dann seinen Eltern verzeihen?
Es ist günstig, mit den Eltern ins Gespräch zu gehen. Wenn beide Seiten aufeinander zugehen, kann das einen Prozess in Gang setzen. Wenn das Kind den Eltern signalisiert, dass es sie verstehen möchte, ohne sie dafür zu verurteilen. Und wenn die Eltern dann wirklich zuhören und sagen: "Es tut mir leid. Ich habe es so gut gemacht, wie ich konnte. Und ich verstehe, dass das nicht das war, was du gebraucht hättest." Dann kann es tatsächlich zum Verzeihen kommen und dazu, die Dinge mit gutem Gefühl hinter sich lassen zu können.
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Das wäre der Idealfall … Doch was, wenn das Gespräch mit den Eltern anders verläuft als erhofft? Sie vielleicht aus Selbstschutz abblocken? Wie lasse ich das los? Soll ich den Kontakt abbrechen?
Es ist deutlich schwerer zu verzeihen, wenn die Eltern abblocken und sagen, sie hätten alles richtig gemacht. In diesem Fall geht es viel darum, sein inneres verletztes Kind zu versorgen und zu trösten für das, was die Eltern nicht konnten, nicht wollten oder nicht wollen konnten.
Wie funktioniert das genau?
Das eine ist, in radikale Akzeptanz zu kommen: Meine Eltern sind, wie sie sind. Ich kann sie nicht ändern. Möchte ich den Kontakt halten oder ihn zum Selbstschutz abbrechen? Das andere ist die Innere-Kind-Arbeit. Wenn man – auch im hohen Alter – darunter leidet, was die Eltern getan haben, kann man einen inneren Dialog mit dem Kind in sich führen. Das kann etwa sein: "Ich nehme dich jetzt an der Hand und passe auf dich auf, dass so etwas nie wieder passiert." Manche machen das in Eigentherapie, andere suchen sich professionelle Hilfe. Je nachdem, wie schwerwiegend es ist. Dieser Prozess hat viel mit Trauerarbeit zu tun.
Was betrauert man dabei genau?
Man betrauert, dass man nicht die Eltern hatte, die man gebraucht und sich gewünscht hätte. Und man gesteht sich ein, dass das auch nicht mehr nachholbar ist. Und dann stellt man sich dem Schmerz und lässt ihn zu. Das ist häufig schwerer, als zu sagen: "Die anderen sind schuld, die anderen sind böse." Es hat viel mit Trauer zu tun, das zu erkennen und diesem Gefühl Raum zu geben, dass Heilung passieren kann.
Gibt es einen Leit- oder Glaubenssatz, der auf diesem Weg helfen kann?
Es gibt einen Satz, den ich oft gemeinsam mit Patienten herausarbeite:
Am besten sagt man es sich wie ein Mantra. Das hilft ganz vielen, auch wenn es sich am Anfang häufig noch nicht richtig anfühlt. Aber das wäre das Ziel, dass dann irgendwann eine Stimmigkeit kommt und man sagt: "Ja, ich bin wertvoll." Das fällt vielen unglaublich schwer. Sie denken, dass etwas mit ihnen falsch sein müsse, sonst hätten sich ihre Eltern ja nicht so verhalten.
Wie integriert man diesen Gedanken in seinen Alltag?
Vor dem Spiegel. Wenn man sich morgens fertig macht, die Zähne putzt, sich wäscht und die Haare stylt, kann man sich selbst anschauen und sagen:
Sich das selbst im Spiegel das zu sagen, es laut auszusprechen, hat eine besondere Wirkung. Viele sagen dann zu mir, dass ihnen das nicht über die Lippen kommt und sie nicht so eingebildet sind. Aber es geht dabei um ein gewisses Mass an Selbstliebe, das jeder Mensch entwickeln darf.
Über die Gesprächspartnerin
- Katrin Boger ist Psychotherapeutin, hat eine eigene Praxis und leitet ein Weiterbildungszentrum rund um das Thema Trauma.
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