• Viele Senioren haben den Zweiten Weltkrieg noch miterlebt. Sie selbst - oder ihre Kinder - sind durch die Geschehnisse traumatisiert.
  • Psychologisch aufgearbeitet haben das die Wenigsten, was angesichts des aktuellen Krieges in der Ukraine gefährlich für die eigene seelische Gesundheit sein kann.
  • Eine Psychologin erklärt, worauf ältere Menschen jetzt unbedingt achten sollten.

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Die meisten Menschen in Mitteleuropa hatten das Glück, in Frieden aufzuwachsen. Doch viele heutige Senioren haben ihre Eltern noch traumatisiert nach dem zweiten Weltkrieg erlebt. Für deren Generation ist Krieg mit den damit verbundenen Ängsten, Flucht oder Kriegsgefangenschaft noch Teil der eigenen Biografie. Sie kann die aktuelle Situation in der Ukraine daher besonders betroffen machen. Eine Expertin erklärt, wie sich das äussert und wie Angehörige helfen können.

Viele derer, die heute über 70 sind, kennen von ihren Eltern noch Fotos oder - meist knappe - Erzählungen zum Beispiel von der Flucht aus dieser Zeit. Das meiste bleibt den Angehörigen in diesen Geschichten aber bis heute unbekannt: Über Details der Flucht, Kriegsgefangenschaft oder Vergewaltigung wurde nicht oder kaum gesprochen.

"Es wird so getan, als hätte es nicht stattgefunden", sagt die Psychologin Marion Wessel im Gespräch mit unserer Redaktion. Häufig finde auch eine Abschlussroutine der Älteren statt, wenn die jüngere Generation das Gespräch suche. "Dann heisst es: 'Nun ja, es ging uns ja allen so'", erklärt Wessel. "Das ist eine Art Überlebensstrategie, aber dadurch geht es dem Einzelnen ja nicht besser."

Hinzu kommt, dass traumatisierende Kriegserlebnisse früher gar nicht als solche erkannt oder psychologisch behandelt wurden. "Das Phänomen 'Kriegstraumatisierung' wurde erstmals im Zusammenhang mit dem Vietnamkrieg [1955 bis 1975; Anm. d. Red.] beschrieben", so Wessel. Somit wurden mögliche psychische Folgen des Krieges auch medizinisch und gesellschaftlich gar nicht thematisiert.

Posttraumatische Belastungsstörung häufig Folge von Kriegshandlungen

In der Folge verdrängten die meisten durch den Zweiten Weltkrieg traumatisierten Menschen das Erlebte. Dadurch sind die Kriegserinnerungen aber nicht verschwunden: Oftmals handelt es sich dabei um traumatische Erlebnisse, die zu einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) führen konnten.

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Unter dem psychologischen Erkrankungsbild der PTBS versteht man eine verzögerte psychische Reaktion auf ein extrem belastendes Ereignis. Dabei kann es sich um eine Situation aussergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigen Ausmasses handeln. Die auslösenden Erlebnisse werden als Traumata bezeichnet. Das können unter anderen Kriegshandlungen und Gewaltverbrechen sein, bei denen die Betroffenen Angst und Schutzlosigkeit erlebten. Hinzu kommt häufig das Gefühl von Hilflosigkeit und Kontrollverlust. Eine PTBS äussert sich dann meist durch Symptome wie:

  • Schlafstörungen
  • Reizbarkeit
  • depressive Verstimmungen
  • Konzentrationsstörungen
  • gedankliches Wiedererleben der traumatischen Erlebnisse
  • Reizbarkeit
  • erhöhte Wachsamkeit
  • ausgeprägte Schreckhaftigkeit

Ukraine-Krieg: Alte Kriegstraumata können aufleben

"Durch die aktuelle Kriegssituation und die täglichen Nachrichten aus der Ukraine kann der Kokon um das alte Kriegstrauma der Menschen aufgehen. Das Trauma kann reaktiviert werden, in schlimmeren Fällen können Menschen dann auch retraumatisiert, also erneut traumatisiert, werden", sagt Wessel. Beispielweise kann die PTBS jetzt durch einen erneuten Krieg in Europa und deren Nachrichtenbilder ausgelöst werden.

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Bei alten Menschen ist dies Wessels Ansicht nach sogar wahrscheinlicher als bei jüngeren: "Die Fähigkeit der Hirnmechanismen, die schlechten Kriegserfahrungen der Vergangenheit zu deckeln, stehen mit zunehmendem Alter weniger zur Verfügung und dadurch kommen dann häufiger alte Traumata hoch." Das habe sie bei ihrer Arbeit im Krankenhaus häufig erlebt, so die Expertin. "Zum Beispiel kommen alte Menschen mit Oberschenkelhalsbruch in die Klinik und dort zur Ruhe. Häufig kommen dann alte Geschichten wie Flucht und schreckliche Erlebnisse auf dem Krieg hoch. Das Gehirn wird mit dem Alter durchlässiger."

Wichtig zu wissen ist auch, dass eine durch Traumata ausgelöste Belastung auch Symptome einer PTBS bei Angehörigen hervorrufen kann. "Das Trauma und die jetzige Angst vor dem Krieg ist transgenerational, also über die Generationen hinweg", so Wessel. In vielen Fällen wurde es von der Kriegsgeneration auf deren Kinder und auch noch die Enkel weitergetragen.

Nachrichten am Abend besser meiden

Wer bei älteren Angehörigen Symptome einer PTBS oder grosse Sorgen bezüglich des Ukraine-Krieges beobachtet, sollte vor allem zuhören und geduldig sein. Dabei sollte man auch bereit sein, sich Schilderungen öfter und wiederholt anzuhören, da auch das einen Verarbeitungsprozess anregen könnte, so Wessel. Zudem sollte man "authentisch sein und widerspiegeln, was man wahrnimmt".

"Ein guter Zugang wäre auch, mit dem Hausarzt zu sprechen, das sind auch diejenigen, die manchmal anregen, in psychische Behandlung zu gehen", rät die Expertin. Hilfreich kann es zudem sein, den Nachrichtenkonsum einzuschränken und nicht mehr um 20 Uhr, kurz vor dem Schlafengehen, die Nachrichten zu schauen. "Bei ständigem Medienkonsum über den Tag findet jedes Mal eine Retraumatisierung statt", weiss Wessel. Besser sei es, sich einmal mittags über die aktuelle Lage zu informieren. "Man sollte sich auch nicht jede Sondersendung ansehen, das macht einfach nur Angst", empfiehlt die Psychologin.

Über die Expertin: Marion Wessel ist Diplom-Psychologin und arbeitet in eigener Praxis in Schleswig-Holstein. Sie hat sich auf die Arbeit mit zum Teil sehr schwer traumatisierten Menschen spezialisiert und ist für diesen Bereich Fachdozentin. Zudem ist sie Fachpsychologin Palliative Care (BDP-DGP) und zertifizierte Ethikberaterin im Gesundheitswesen.
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