- Mit dem Buch "Kaltblütig" legte Truman Capote 1965 den Grundstein für das Genre True Crime. 56 Jahre später gibt es unzählige Filme, Serien, Podcasts und Zeitschriften, die sich mit realen Kriminalfällen beschäftigen.
- In den letzten Jahren erlebten True-Crime-Formate einen regelrechten Boom, die Faszination für das Verbrechen, aber auch für die Arbeit der Ermittlerinnen und Ermittler ist gross.
- Warum das so ist, erklärt Dr. Johanna Schäwel vom Fachgebiet Medienpsychologie der Universität Hohenheim im Gespräch mit unserer Redaktion.
Warum fasziniert das Genre True Crime die Menschen so sehr?
Johanna Schäwel: Es gibt sechs zentrale Gründe, die bei True-Crime-Formaten, -Serien und -Podcasts besonders sind und uns faszinieren. Einer dieser Gründe ist, dass wir etwas über ein reales Geschehen erfahren. Es reizt uns einfach, am Leben anderer Menschen teilzuhaben. Das Gefühl, dass das Gezeigte wirklich passiert ist, ist sehr reizvoll für uns. Der zweite Grund ist, dass sehr viele Emotionen ausgelöst werden. Das Spektrum der Gefühle ist riesengross, von Angst und Verletzlichkeit bis hin zu Neugierde und Vergnügen. Der dritte Grund ist, dass wir selbst zur Falllöserin oder zum Falllöser werden und miträtseln können. Wir verspüren diese Faszination, weil wir etwas über die Mörderin oder den Mörder oder die Täterin oder den Täter erfahren. Es geht nicht nur um das Opfer, sondern auch um den Täter und was ihn zum Täter gemacht hat.
Ein weiterer Grund ist, dass wir etwas lernen und uns informieren können. Nicht nur darüber, wie solche Taten stattfinden oder was dahintersteckt, sondern zum Beispiel auch, wie unser Rechtssystem funktioniert. Ausserdem verspüren wir bei True-Crime-Formaten ein moralisches Involvement, ein Vergnügen auf Meta-Ebene. Wir schauen uns grausame Taten an, aber können auf Meta-Ebene darüber reflektieren und uns dessen bewusst werden, wie wir selbst dazu stehen. Selbst wenn man etwas Grausames sieht, kann man eine Art Genuss dabei empfinden, weil man auf Meta-Ebene beurteilen kann, dass man selbst so etwas nicht tun würde. Und der sechste und letzte Grund ist ganz klar die Unterhaltung. Wir wollen einfach unterhalten werden, und dafür eignen sich diese Formate sehr gut.
Bei True-Crime-Formaten gibt es Täterinnen und Täter, Ermittlerinnen und Ermittler und Opfer. Mit wem ist die Identifikation am stärksten?
Es kommt darauf an. Identifikation ist in der Medienforschung ein sehr wichtiger und grosser Begriff. Das ist eigentlich ein ganzer Prozess, bei dem es sehr starke kognitive und emotionale Verbindungen zwischen einer Figur und den Rezipientinnen und Rezipienten gibt. Das kann sogar dazu führen, dass wir eine verzerrte Selbstwahrnehmung haben und uns gar nicht mehr bewusst sind, dass wir gerade eigentlich nur Zuschauerinnen oder Zuschauer oder Zuhörerinnen oder Zuhörer sind. Ob wir uns so stark mit dem Täter oder mit dem Ermittler identifizieren, hängt von verschiedenen Faktoren ab: Sympathie, Ähnlichkeit oder wahrgenommene Nähe.
Aus medienpsychologischer Sicht spielt natürlich auch die Erzählperspektive eine Rolle. Wie bereits gesagt, ist es eine Besonderheit der True-Crime-Formate, dass die psychologischen Hintergründe des Täters oder der Täterin ergründet werden. Oftmals ist es so, dass wir den Täter seit seiner Kindheit begleiten. Deshalb verspüren wir eine Art von Empathie und können uns zumindest temporär in seine Lage versetzen. Trotzdem würde ich aus den bereits genannten Gründen sagen, dass wir uns eher mit der Ermittlerin oder dem Ermittler identifizieren. Weil das Ergründen des Täters die Perspektive ist, die uns reizt.
Serienmörder sind in der Realität ein sehr seltenes Phänomen. In den True-Crime-Formaten stehen sie überproportional oft im Mittelpunkt. Ist die Faszination am Bösen der Grund dafür?
Ja, definitiv ist es auch die Faszination am Bösen. Ausserdem ist das Besondere an solchen Serienmorden, dass ein noch grösseres, verworreneres und komplexeres Netz dahintersteckt. Es gibt noch viel mehr Faktoren, die dazu führen und analysiert werden müssen. Als Ermittler können wir noch fleissiger sein und noch mehr herausfinden. Wir haben noch mehr Spannungsmomente, es gibt viel mehr zu entdecken, wenn man anstatt eines einzelnen Mordes eine Reihe von Morden betrachtet. Das ist wie ein Puzzle, eine Schnitzeljagd. Es gibt immer noch ein Stück, noch einen Mord zu entdecken. Wir wollen das grosse Gesamte verstehen, und das kann emotional und kognitiv sehr reizvoll sein.
Besonders Frauen schauen und hören gerne True Crime. Woran liegt das?
Es gibt tatsächlich viele Studien, die das zeigen. Das betrifft Streaming und Podcasts, auch True-Crime-Bücher werden häufiger von Frauen gelesen. Bei True-Crime-Podcasts sind zwischen 65 und 70 Prozent der Hörerinnen weiblich. Es gibt verschiedene Ansätze, warum das so ist. Studien von 2010 und 2017 und eine aktuelle Abschlussarbeit bei uns am Lehrstuhl an der Universität Hohenheim haben gezeigt, dass sich Frauen gerne Wissen für den Notfall aneignen wollen. Oftmals sind die gezeigten Opfer in True-Crime-Formaten Frauen, was dazu führt, dass sich Frauen besser in diese Rolle hineinversetzen können und sich überlegen, wie sie in einer solchen Situation gehandelt hätten.
Man hat aber auch gesehen, dass Frauen sehr gerne und viel intensiver das psychologische Problemgeflecht analysieren und verstehen möchten. Dabei kommt es natürlich auf die Eigenschaften der Frauen an. Obwohl die Zahlen dafür sprechen, dass mehr Frauen diese Formate konsumieren, würde ich ungern pauschalisieren. Ich bin der Meinung, dass man mehr auf persönliche Interessen als auf das Geschlecht schauen sollte. Wir forschen gerade daran, welche Persönlichkeitseigenschaften mit der konkreten Auswahl von True-Crime-Formaten zusammenhängen. Dazu sollten wir bald Ergebnisse haben.
Horrorfilmen wird eine kathartische, also reinigende Wirkung nachgesagt. Trifft das auch auf True-Crime-Formate zu?
Ja, das wird vermutet. Es gibt Ansätze, dass insbesondere bei Frauen eine kathartische, erleichternde Funktion eine Rolle spielt. Dass man sich aus sicherer Entfernung mit dem Verbrechen konfrontieren, daraus lernen und die eigene Angst managen kann. Die kathartischen Ansätze werden kontrovers diskutiert, meiner Meinung nach fehlen noch aktuelle Studien, um das zu belegen. Ich glaube aber, dass Unterhaltungsmotive, aber auch Eskapismus – also, dass man dem eigenen, vielleicht langweiligen Alltag entfliehen möchte – eine grössere Rolle spielen.
In Deutschland geschehen pro Jahr nur etwa 200 bis 300 Morde. Besteht die Gefahr, dass sich die Wahrnehmung der Zuschauerinnen und Zuschauer durch die ständige Thematisierung in True-Crime-Formaten verschiebt und das Gefühl entsteht, in einer sehr kriminellen Welt zu leben?
Diese Angst wird häufiger geäussert, das Phänomen kann tatsächlich auftreten. Das beobachten wir auch bei anderen Formaten. Je intensiver wir uns mit bestimmten Inhalten beschäftigen, desto mehr rücken sie für uns in den Fokus. Deshalb tendieren wir dazu zu glauben, dass das die ganze Realität widerspiegelt. Wir nennen so etwas "Bias", eine verzerrte Realitätswahrnehmung. Das kann passieren, wenn man nicht gut darüber reflektiert, was man sich anschaut. Wichtig ist einfach, dass man sich darüber bewusst ist, dass man sich Ausschnitte der Realität anschaut oder anhört und dass das nicht die gesamte Realität ist. Wenn man das tut, kann der "Bias" verschwinden. Da spielen verschiedene Faktoren eine Rolle. Medienkompetenz ist ganz wichtig, aber auch der gesunde Menschenverstand, das Ganze mit einem gewissen Abstand zu betrachten.
Sehen Sie die Gefahr eines Copycat-Effekts, also dass Menschen die gezeigten Verbrechen nachahmen könnten?
Nein. Ich hoffe, ich bin da nicht zu optimistisch, aber diese Gefahr sehe ich erstmal nicht. Das wäre zu extrem und zu einfach geschlussfolgert. Das ist so ähnlich wie die Annahme, dass Computerspiele Menschen zu Straftätern oder Mördern werden lassen. Da spielen viel mehr persönliche und kontextuelle Faktoren eine Rolle, ob man tatsächlich zur Verbrecherin oder zum Mörder wird. Die Persönlichkeit des potenziellen Täters oder der Täterin, seine oder ihre Vergangenheit, Erfahrungen, Traumata, Ängste, Depressionen, Umweltfaktoren wie die Lebensbedingungen und persönliche Situation. Solche Sachen führen dazu, dass man dazu tendiert, ein Verbrechen auszuüben oder tatsächlich einen Mord zu begehen. Nur weil man sich ansieht, wie jemand ein Verbrechen begeht, wird man nicht selbst zum Verbrecher.
Welche True-Crime-Serie schauen Sie selbst am liebsten?
Ich bin wirklich ein Fan von True-Crime-Formaten aller Art. Ich war ein grosser Fan von "Making a Murderer" auf Netflix. Jetzt bin ich mehr zu den Podcasts gewechselt, da kann ich mir mein eigenes Bild aufbauen und das Ganze ein bisschen anders reflektieren. Ich höre leidenschaftlich gern "ZEIT Verbrechen", ich bin ein grosser Fan.
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