Mehr als 200'000 Schweizerinnen und Schweizer leben offiziell in Frankreich. Sie sind damit die grösste Auslandschweizer-Gemeinde.
In der Schweiz führt die Präsenz von französischen Staatsangehöriger oft zu Spannungen; umgekehrt ist das viel weniger der Fall. Warum das so ist, weiss die Historikerin Anne Rothenbühler.
Wenn im August in Basel der 95. Auslandschweizer-Kongress stattfindet, wird die Delegation aus Frankreich zahlenmässig einmal mehr die grösste. Ende 2016 lebten 775'000 Schweizer Staatsangehörige im Ausland, mehr als 200'000 davon in Frankreich.
Anne Rothenbühler ist eine dieser Schweizerinnen in Frankreich. Die Jurassierin lebt heute in der Region Paris und ist spezialisiert auf die – bisher relativ wenig bekannte – Geschichte der Schweizer Immigration in Frankreich.
Mehr als einer von vier Auslandschweizern lebt in Frankreich. Lässt sich dieses Phänomen durch die geografische, sprachliche und kulturelle Nähe allein erklären?
Anne Rothenbühler: Nur teilweise. Auch Deutschland ist der Schweiz geografisch und kulturell sehr nahe. Dennoch leben dort zweimal weniger Schweizer Staatsangehörige.
Dies muss in Bezug gesetzt werden mit der Tradition der Migration zwischen der Schweiz und Frankreich, die praktisch auf die Antike zurückgeht. Im Lauf der Jahrhunderte liessen die Familien ihre Angehörigen nachkommen, was zu einer wahren Migrationskette zwischen den beiden Ländern führte.
"Im Lauf der Jahrhunderte liessen die Familien ihre Angehörigen nachkommen, was zu einer wahren Migrationskette zwischen den beiden Ländern führte."
Man muss auch darauf hinweisen, dass die Landesgrenze, so bedeutend sie aktuell auch sein mag, eine relativ neue politische Konstruktion ist. Vor 1914 gab es keine Pässe. Die Grenze war sehr durchlässig, und die Zirkulation zwischen der französischsprachigen Schweiz und Frankreich gross.
Ab dem 14. Jahrhundert reisten Hausierer, Handwerker und Händler in grosser Zahl umher, und viele liessen sich auf der anderen Seite der Grenze nieder.
Wie lässt sich erklären, dass die Hälfte der Schweizerinnen und Schweizer in Frankreich in Lyon und Umgebung leben?
Viele sind Nachfahren von Schweizer Händlern, die sich in Lyon niedergelassen hatten. Im 16. Jahrhundert war die Stadt – wie in römischer Zeit – wieder zu einer Schnittstelle der Welt geworden und hatte Handelsleute aus ganz Europa angezogen.
Heute wird die Region Lyon geprägt von der neusten chemischen und pharmazeutischen Industrie, die eine bedeutende Anzahl Schweizer Fachleute anzieht. Dazu kommen die Tausenden von Schweizer Staatsangehörigen, die sich im benachbarten Frankreich niederlassen, um von erschwinglicherem Wohnraum zu profitieren, während sie weiterhin auf der anderen Seite der Grenze arbeiten.
Schauen wir etwas zurück in die Vergangenheit. Auf wann geht die erste Immigrationswelle aus der Schweiz nach Frankreich zurück?
Das war im ersten Jahrhundert vor Christus! Da sie die Schweiz als zu klein für sich erachteten, wollten etwa Hunderttausend Helvetier in die Rhoneebene ziehen. Julius Cäsar sah sich gezwungen, einzugreifen: Das war der Anfang des Gallischen Kriegs.
Gewisse Bilder der Schweizer Immigration prägten später das Bewusstsein, vor allem jene der gefürchteten Söldner, die im Dienst der Könige Frankreichs zu Schweizer Gardisten wurden.
Aber es kam in Frankreich auch zu anderen Migrationsbewegungen aus der Schweiz, die weit weniger bekannt sind: Im Hundertjährigen Krieg (1337-1453) zogen Schweizer aus, um die Regionen im Nordosten Frankreichs zu kolonisieren, die zerstört und entvölkert waren.
Das Gleiche wiederholte sich im Dreissigjährigen Krieg (1618-1648): Damals waren es vor allem Deutschschweizer Bauern, die keinen Zugang zu Besitz in der Schweiz hatten, die sich in grosser Zahl westlich des Rheins niederliessen.
Hatte auch die grosse Emigrationswelle im 19. Jahrhundert, während der Teile der Schweizer Bevölkerung vor Elend und Armut flohen, einen bedeutenden Einfluss auf die Schweizer Gemeinschaften in Frankreich?
Diese Massenemigration war vor allem auf Übersee ausgerichtet, traf aber auch Frankreich und Italien. Die Schweiz war damals vor allem ein Agrarland, und die Industrialisierung konnte den Überschuss an Arbeitskräften nicht auffangen. Dazu kam die Angst vor Überbevölkerung, die von den Eliten geschürt wurde.
Die damalige Migrationsbewegung war sehr organisiert: Es wurden Auswanderungsagenturen geschaffen, die Armen und Bedürftigen – deren sich die politischen Gemeinden und die Bourgeoisie entledigen wollten – praktisch pfannenfertige Reiseangebote machten.
Die Frauen spielten in dieser Migrationsbewegung des 19. Jahrhunderts eine wichtige Rolle. In Paris, Marseille und in anderen französischen Städten wurden sie oft als Mägde oder Dienstmädchen angestellt. Was war der Grund?
Schweizerinnen genossen zu der Zeit in Frankreich einen hervorragenden Ruf. Besonders geschätzt wurden ihre harte Arbeit, ihre Zuverlässigkeit und ein gewisser Hang zur Sparsamkeit.
Diese Frauen kamen meist aus bescheidenen Verhältnissen, und ihr Ansporn war eher Ehrgeiz als rein wirtschaftliche Argumente. Denn bei einer Rückkehr in die Schweiz konnten sie die Erfahrungen, die sie in Frankreich gemacht hatten, zu ihren Gunsten nutzen. Und vergessen wir nicht, oft war es für diese Frauen auch die einzige Möglichkeit, reisen zu können.
Unterhalten die Schweizerinnen und Schweizer in Frankreich enge Beziehungen miteinander oder integrieren sie sich eher in die lokale Bevölkerung?
Ab dem 19. Jahrhundert entstand ein starkes gemeinschaftliches Netzwerk. Die Schweizer Eliten, die in Paris lebten, übten eine Kontrolle über die Schweizer Bevölkerung aus, mit dem Ziel, deren guten Ruf zu bewahren. Es wurden Chöre, Brasserien, Gymnastikvereine und auch Zeitungen gegründet. Daneben wurde aber auch eine Rückkehrpolitik geschaffen, um die grössten Störenfriede zu einer Rückkehr in die Heimat zu motivieren.
Diese gemeinschaftlichen Verbindungen sind bis heute sehr lebendig. Die Schweizer Revue wird in Frankreich sehr oft gelesen, noch immer gibt es viele Freundschafts- und Schweizer Vereine. Dieses Bedürfnis, die Verbindungen mit dem Herkunftsland zu bewahren, zeigt sich vor allem bei Doppelbürgern, die sonst nicht mehr sehr starke Beziehungen in der Schweiz haben.
Gab es Momente in der Geschichte, in der die Schweizerinnen und Schweizer in Frankreich nicht mehr willkommen waren?
Ja, punktuell gab es das. Anfang des 19. Jahrhunderts löste der Wunsch von Schweizern, in Aquitanien [im Südwesten Frankreichs, Anm.d.R.] Kolonien zu gründen, Spannungen aus.
Nach dem Ersten Weltkrieg mussten die Schweizer Wirtschaftskreise viel pädagogisches Geschick aufwenden, um den Handel zwischen den beiden Staaten wieder anzukurbeln, weil die Schweiz damals in enge Verbindung mit Deutschland gebracht wurde.
Doch auch in jüngerer Zeit prägten Spannungen die Beziehungen zwischen den zwei Ländern. Das war vor allem der Fall, als Nicolas Sarkozy Präsident war. Zu einer massiven Ablehnung der Schweizer und Schweizerinnen in Frankreich kam es jedoch nie.
Umgekehrt sorgt die Präsenz von Französinnen und Franzosen in der Schweiz für etliche Spannungen, wie das Buch der Journalistin Marie Maurisse, "Bienvenue au paradis" (Willkommen im Paradies), ausführt, das mit viel Aufhebens die latente Fremdenfeindlichkeit anprangert, der ihre ausgewanderten Landsleute und Grenzgänger zum Opfer fallen würden. Wie kommt es zu diesem Unterschied?
Das geht einfach auf die Tatsache zurück, dass die wirtschaftliche Argumentation gewissermassen nur in einer Richtung spielt. Wenn sich ein Schweizer in Frankreich niederlässt, ist es nicht, um mehr Geld zu verdienen. Und die Klischees über die Schweiz halten sich in Frankreich hartnäckig. Als Schweizerin höre ich oft, dass mein Grossvater bestimmt ein Chocolatier, Uhrmacher oder Banker gewesen sei, und man verdächtigt mich, in Geld zu schwimmen.
Auch heute noch zieht Frankreich viele Schweizerinnen und Schweizer an. Wie unterscheidet sich die heutige Migrationsbewegung von früheren?
Das Profil jener Personen, die aus beruflichen Gründen auswandern, hat sich natürlich verändert. Es sind nicht mehr Handwerker, die aus der Schweiz wegziehen, sondern Personen, die verantwortungsvolle, höhere Posten belegen wollen, zum Beispiel im Bereich der neuen Technologien.
Unter den Neo-Migranten findet man auch viele "Baby-Boomers", die sich in Frankreich einen angenehmeren Ruhestand erhoffen. Eine Ähnlichkeit mit den früheren Migrationsbewegungen gibt es allerdings: Das häufige Hin- und Herpendeln zwischen den zwei Ländern.
Gibt es noch Aspekte der Schweizer Migration nach Frankreich, die man bisher nicht kennt?
Diese gesamte Migrationsgeschichte ist noch relativ wenig ergründet, wobei vor allem ein Kapitel bisher im Schatten blieb: Es geht um die jungen, oft minderjährigen Schwangeren, die im 19. Jahrhundert für die Geburt nach Paris reisten, um Hohn und Spott sowie Ausgrenzung in ihren Herkunftsgemeinden zu entgehen.
Das ist ein absolut einzigartiges Beispiel der Migration in Europa. Weder Italienerinnen noch Deutsche taten dies.
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