Sie blicken in das Gesicht ihres eigenen Kindes und es kommt Ihnen fremd vor: Was für viele Menschen unvorstellbar ist, ist für Prosopagnostiker Alltag. Zwei bis drei Prozent der Bevölkerung sind nicht fähig, Menschen anhand ihrer Gesichtszüge zu erkennen. Was steckt hinter der Störung?

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Betroffene sehen Gesichter, können sie aber keinen bestimmten Personen zuordnen: Prosopagnosie bezeichnet die Unfähigkeit, Menschen allein anhand ihrer Gesichtszüge zu erkennen.

Umgangssprachlich wird auch der Begriff "Gesichtsblindheit" verwendet. Dieser ist jedoch irreführend: Prosopagnostiker erkennen sehr wohl, dass sie ein menschliches Gesicht vor Augen haben. Sie können auch unterscheiden, ob es sich um weibliche oder männliche Gesichtszüge handelt, ob es für sie attraktiv ist und welche Emotionen die Mimik ausdrückt. Was ihnen jedoch fehlt, ist die Fähigkeit, in den Gesichtszügen eine ihnen bekannte Person wiederzuerkennen.

Diese Störung kann unterschiedlich stark ausgeprägt sein. In drastischen Fällen kann einem Prosopagnostiker sein eigenes Gesicht im Spiegel fremd erscheinen. Bei schwacher Ausprägung erkennen Betroffene ihr eigenes und die Gesichter von nahestehenden Menschen, die sie täglich sehen, haben aber über diesen engen Kreis hinaus Schwierigkeiten.

Besondere Leistung des Gehirns

Laut Prof. Claus-Christian Carbon von der Universität Bamberg ist die Fähigkeit, Gesichter zu unterscheiden, eine enorme Leistung unseres Gehirns: "Wenn Sie Schafsgesichter mit Menschengesichtern vergleichen, würden Sie wahrscheinlich sagen, Schafe sehen alle gleich aus, aber wir nicht. Doch tatsächlich ist es so, dass Schafe die Köpfe anderer Schafe sehr wohl auseinanderhalten können, ebenso können Affen Affengesichter unterscheiden und wir erkennen eben Menschengesichter."

Menschengesichter weisen dem Psychologen zufolge gar nicht so viel stärkere Unterschiede auf als Tiergesichter. Uns erscheint das nur so, weil sich unser Gehirn darauf spezialisiert hat, kleinste Unterschiede in den Gesichtszügen unserer Artgenossen zu auszumachen.

Wie kommt es zu Gesichtsblindheit?

Bei der Prosopagnosie werden grundlegend zwei Formen Unterschieden: Die Störung kann durch eine Schädigung des Gehirns ausgelöst werden, etwa durch ein Schädelhirntrauma oder einen Schlaganfall. Diese Variante kommt laut Carbon äusserst selten vor.

Relativ häufig tritt dagegen die angeborene Variante auf. Dem Gesichtsforscher zufolge wird geschätzt, dass jeder vierzigste Mensch ohne die Fähigkeit aufwächst, Personen anhand ihrer Gesichter zu erkennen. Wissenschaftler gehen davon aus, dass die Störung vererbt wird. "Wenn Sie in einer Familie jemanden als Prosopagnostiker identifizieren, besteht eine sehr grosse Wahrscheinlichkeit, dass weitere Familienmitglieder davon betroffen sind", so Carbon.

Prosopagnosie bleibt oft unerkannt

Statistisch gesehen müsste jeder Mensch einen oder sogar mehrere Prosopagnostiker in seinem Bekanntenkreis haben. Doch Betroffene gehen häufig geschickt mit der Störung um und vermeiden dadurch gravierende Einschränkungen ihres Alltags.

Sie achten auf andere Erkennungsmerkmale: Man kann sich einen charakteristischen Haaransatz einprägen, Menschen anhand ihrer Stimme

oder Kleidung erkennen. "Bei Konferenzen orientieren sie sich vielleicht stärker an den Namensschildern", so Carbon.

Oft entwickeln Betroffene auch hilfreiche Strategien im Umgang mit anderen Menschen. Beispielsweise durch die Frage "Kennen wir uns nicht irgendwoher?" bringt man sein Gegenüber dazu, zu erklären, wer er ist.

Am einfachsten sei es, schlicht auf das Defizit hinzuweisen. Eine Aussage wie "Ich bin schlecht im Gesichter erkennen" erscheint vielen Menschen gar nicht so ungewöhnlich. "Vielen kommt das bekannt vor, weil wir es alle kennen, dass uns in manchen Situationen die Namen von Menschen nicht einfallen", so Carbon.

Quellen:


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