Unser digitalisiertes Leben bietet unzählige Möglichkeiten der Zerstreuung. Wir können uns informieren, miteinander kommunizieren oder uns unterhalten lassen - und das überall und ständig. Von Langeweile keine Spur. Dabei ist sie so wichtig.

Anja Delastik
Eine Kolumne
Diese Kolumne stellt die Sicht von Anja Delastik dar. Informieren Sie sich, wie unsere Redaktion mit Meinungen in Texten umgeht.

"Ich sehe, du langweilst dich, soll ich dir das iPad holen?", fragt mein Mann als er ins Wohnzimmer kommt. Sein Satz ist ironisch gemeint.

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Ich liege auf der Couch, im Fernseher läuft eine Doku, in meinem Schoss ist der Laptop aufgeklappt, während ich auf dem Handy tippe. Es ist mir peinlich das hier zuzugeben, aber, ja, sowas kommt vor.

Irgendwas läuft immer

Was bei mir so läuft? Irgendwas. Immer. Schnell noch den Podcast fertig hören, während die Suppe auf dem Herd köchelt oder vorm Einschlafen die finale Folge "Game of Thrones" gucken, bevor irgendwer im Internet spoilert.

Mag sein, dass ich ein Extremfall bin. Aber ich vermute dennoch, dass sich einige wiedererkennen - ob sie es zugeben oder nicht. Man muss sich nur mal in Wartezimmern oder im öffentlichen Nahverkehr umschauen.

Überall sieht man Menschen, die Candy Crush, Minecraft oder Clash Royale spielen, durch Facebook oder Instagram scrollen, irgendwas online lesen, angucken, tippen.

Es heisst, so manch einer nähme sein Smartphone gar mit auf die Toilette. Ganz so schlimm bin ich nicht, aber ich finde es toll, in Zeiten zu leben, in denen Information, Wissen und Unterhaltung jederzeit verfügbar und abrufbar sind.

Schon als Kind träumte ich davon. Nachdem mich meine Eltern abends ins Bett gebracht hatten, lag ich oft im Dunkeln wach und langweilte mich. Dann malte ich mir aus, wie herrlich es doch wäre, einen winzigen Fernseher zu besitzen, auf dem ich unter der Bettdecke "Ronja Räubertochter" gucken könnte, oder ein Mini-Walkie-Talkie, um mich noch ein bisschen mit meinen Freundinnen zu unterhalten.

Wir haben alles - nur keine Langeweile

Na gut, dann wenigstens einen Walkman, mit dem ich meinen Lieblingssong von a-ha in Dauerschleife zum Einschlafen hören könnte, ohne immer wieder zurückspulen zu müssen, bis er eiert, weil die Batterie leer oder die Kassette ausgeleiert ist! Heute besitze ich ihn, meinen Minifernseher, auf dem ich gleichzeitig meine Lieblingsmusik auf Repeat hören und mich mit Freunden unterhalten kann. Nur eines habe ich nicht mehr: Langeweile.

Die hat in unserem digitalen Zeitalter nämlich kaum eine Chance mehr. Das kleine Gerät in unserer Tasche sorgt dafür, dass wir ständig beschäftigt sind. Und auch wenn wir uns manchmal einreden, damit etwas Produktives zu tun, wissen wir, dass Stimulation und Inspiration nur Synonyme für Ablenkung und Berieselung sind.

Fantasie braucht Langeweile

Dabei ist Langeweile so wohltuend - und so wichtig. Sie gibt unserer Fantasie den nötigen Freiraum, sich zu entfalten und sich an fremde Orte und in neue Situationen zu denken. Nur unseren Gedanken nachzuhängen, bedeutet auch, Erlebtes Revue passieren zu lassen und zu verarbeiten.

Langeweile kann Produktivität und Kreativität fördern. Denn die Zahnrädchen, die aktiv werden, wenn wir uns ausmalen, wie wir unseren Lottogewinn verprassen, sind auch für Sinneswahrnehmung, Informationsverarbeitung und unser Gedächtnis zuständig. Menschen, die häufig tagträumen, sind angeblich geistig fitter; ihre Festplatten und Arbeitsspeicher sind nicht dauervoll - oder werden zumindest gelegentlich defragmentiert.

Akku leer? Gut so

Leider muss der Smartphone-Akku erst leer sein, bis wir die Musse finden, unseren eigenen Akku wieder aufzuladen. Oder aber, man legt das Handy öfter mal beiseite. Mach ich jetzt jedenfalls, fahre den Rechner runter - und mich selbst gleich mit. Womöglich langweile ich mich ein bisschen, so ganz ohne alles. Bin gespannt, wie sich das anfühlt.

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