Wie steht es um den Lateinunterricht in der Schweiz? Trotz offensichtlicher und wiederkehrender Probleme halten Lehrkräfte und Fachleute ein Aussterben der Sprache für unwahrscheinlich.

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Die Debatte über den Lateinunterricht in der Schweiz wird in periodischen Abständen immer wieder neu aufs Tapet gebracht. Daran mitschuldig ist auch das komplexe, je nach Kanton unterschiedlich strukturierte Bildungswesen.

Kürzlich flammte die Debatte im Kanton Zürich wieder auf. Eine im Oktober vom Tages-Anzeiger publizierte Studie zeigte, dass das Interesse an Latein stark nachgelassen hat.

Wer an einem Zürcher Langzeit-Gymnasium eingeschrieben ist, muss während zweier Jahre obligatorisch Lateinkurse besuchen. Der Anteil jener, die im dritten Jahr freiwillig weitermachen, ist von 42,3% im Jahr 1998 auf magere 12,4% im Jahr 2018 gesunken.

Wie der Tages-Anzeiger berichtet, gibt es mehrere Hypothesen zur Erklärung dieses Phänomens. Zunächst einmal entscheiden sich viel mehr Jugendliche für das Gymnasium, auch solche, die früher vermutlich eher den Weg einer Berufslehre eingeschlagen hätten und denen gemeinhin eine weniger grosse Affinität zu Latein nachgesagt wird.

Hinzu kommt die bei Jugendlichen und Eltern verbreitete Vorstellung, man müsse sich unbedingt Informatik- und Technologiefächern zuwenden. Und schliesslich werden für den Zugang zu bestimmten Fakultäten keine Lateinkenntnisse mehr verlangt.

"Wenn Latein am Untergymnasium nicht schon seit vielen Jahrzehnten Pflichtstoff wäre, käme wohl niemand auf die Idee, das Erlernen der Amtssprache der Römer für obligatorisch zu erklären", liest man in einem Kommentar des Tages-Anzeigers. Und weiter: Zürich solle dem Beispiel anderer Kantone folgen und es den Schülerinnen und Schülern überlassen, ob sie sich für Natur und Technik oder Latein entscheiden. "Ist dies dem Kanton zu kompliziert, soll er Latein opfern und stattdessen auf Natur und Technik setzen", so der Kommentar im Wortlaut.

Ist Latein nun also überflüssig?

Tendenzen und Gegentendenzen

"Wenn man beschliesst, Latein sterben zu lassen, dann stirbt es", erklärt Benedino Gemelli, bis vor einem Jahr Griechisch- und Lateinlehrer am Liceo in Bellinzona. "Ein Politiker kann mutwillig beschliessen, das Fach zu streichen. Das ist die traurige Wirklichkeit: In der Schule hat nichts mehr Platz."

Laut Lucius Hartmann, Vizepräsident des Vereins Schweizerischer Gymnasiallehrerinnen und Gymnasiallehrer (VSG), trifft es zu, dass die Zahl der Lateinschülerinnen und -schüler in den meisten Kantonen zurückgeht. Die Behauptung, Latein sei "gefährdet", hält er indessen für übertrieben.

Während in einigen Kantonen drastische Massnahmen ergriffen wurden, die es selbst motivierten Schülerinnen und Schülern verunmöglichen, Lateinkurse zu besuchen (wie in Uri und Obwalden, wo die Kurse abgeschafft wurden), ist in anderen eine Gegentendenz festzustellen. In den Kantonen Bern und Basel stösst das Fach auf wachsendes Interesse.

"Ich glaube, dass die alten Sprachen weiterhin im Schweizer Bildungswesen verankert bleiben", sagt Hartmann. "Sie sind schlicht und einfach zu wertvoll. Das zeigt sich auch eindrücklich darin, dass herausragende Schülerinnen und Schüler sie als Wahlfach nehmen. Allerdings deutet vieles darauf hin, dass unter dem Diktat der Finanzpolitik und der daraus resultierenden Ökonomisierung der Bildung die klassischen Sprachen noch stärker an den Rand gedrängt werden."

Auf diese Tendenz weist auch Christoph Riedweg, Professor für klassische Philologie an der Universität Zürich und ehemaliger Direktor des Schweizerischen Instituts in Rom (ISR), mit Bedauern hin.

"Ich sehe Kantone in der Deutschschweiz, die Steuersenkungen vorgenommen haben, um Kapital anzuziehen, und dann aus Spargründen diese Fächer abwerten. Das finde ich schlecht und kurzsichtig, genauso schlecht wie die Entscheidung mancher Universitäten, aus Angst, Studierende und finanzielle Mittel zu verlieren, keine Kenntnisse der klassischen Sprachen mehr zu verlangen", so Riedweg.

Trotz aller Schwierigkeiten blickt Riedweg optimistisch in die Zukunft. Weshalb? "Weil die klassische Bildung zu wichtig ist." Seiner Ansicht nach erschliessen Latein und Griechisch den Zugang zum Verständnis der Antike, was uns wiederum ein besseres Verständnis der Moderne eröffnet.

"So ist heutzutage oft von Demokratie und Populismus die Rede. Zu einem Abdriften der Demokratie in Populismus und Demagogie kam es indessen schon während des Peloponnesischen Kriegs (von 431 v. Chr. bis 404 v. Chr.). Die Sophisten des 5. Jahrhunderts v. Chr. verhielten sich genau gleich wie die politischen Berater von heute."

"Die Antike ist ein Labor zum besseren Verständnis unserer selbst und wozu wir Menschen fähig sind. Das ist äusserst aufschlussreich", so Riedweg.

Ferner ist es Riedweg ein Anliegen, darauf hinzuweisen, dass die Verantwortlichen der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETH), die international zu den renommiertesten technisch-naturwissenschaftlichen universitären Hochschulen zählt, mehrfach betont haben, Studierende mit einem klassischen Maturitätsprofil (Latein oder Griechisch) würden im Studium besser abschneiden.

Eine kleine Renaissance scheinen die klassischen Sprachen derzeit in Frankreich zu erleben, wo Bildungsminister Jean-Michel Blanquer beschlossen hat, Latein und Griechisch zu fördern – nicht zuletzt als Methode der Integration. Mit der Begründung, dies könne dem Land "Wurzeln und Flügel" verleihen.

Riedweg begrüsst die Entwicklung in Frankreich und ist überzeugt, dass Griechisch und Latein in zehn bis höchstens zwanzig Jahren "im grossen Stil" wieder aufleben werden.

Sensibilisierungsarbeit

Bis es soweit ist, liegt es an den Lehrkräften und Experten, die Schülerinnen und Schüler für die klassische Bildung zu begeistern. Gemelli weiss nur zu gut, wie man Jugendliche für ein Fach wie Latein gewinnt.

"Man darf sie nicht mit Grammatik vergraulen. Das grösste Problem ist, dass die Schülerinnen und Schüler der Mittelschulen das Gefühl haben, Latein sei eines der wenigen Fächer, bei denen man sich richtig ins Zeug legen müsse. Was nicht mehr unbedingt als Mehrwert wahrgenommen wird."

Einen alternativen Ansatz bei der Einführung in die klassische Bildung wählt der Kanton Waadt. So treibt die Universität Lausanne seit einigen Jahren erfolgreich ein Projekt der angewandten Rhetorik voran, das sich an Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe II richtet.

"Wir reaktualisieren die Rhetoriktechniken der alten Römer. In Sachen Kommunikation können wir von der lateinischen Kultur noch sehr viel lernen", sagt Danielle van Mal-Maeder, Lateinprofessorin an der Universität Lausanne und Promotorin des Projekts.

Die klassischen Sprachen können also hierzulande auf überzeugte Verfechter ihrer Causa zählen. Gemelli bringt die Sache auf den Punkt: "Wenn die Politik dem Latein nicht den Krieg erklärt und die Bedingungen für sein Weiterbestehen gewährleistet sind, braucht man sich keine Sorgen zu machen, dass es wirklich stirbt. Wichtig ist, die intellektuelle Neugier der Jugendlichen nicht zu ersticken, sonst haben wir es am Ende unter Umständen mit fachlich kompetenten, im Grunde aber einfallslosen Erwachsenen zu tun."


(Übertragung aus dem Italienischen: Cornelia Schlegel)  © swissinfo.ch

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