"Warum bin ich so anders?" – Diese Frage stellte sich Luka jahrelang, doch eine Erklärung fehlte. Erst mit 18 Jahren brachte eine Autismus-Diagnose die Antwort. Im Interview spricht Luka über Reizüberflutung, was an Personen ohne Autismus frustrierend ist und über die Herausforderung, in einer lauten Welt zurechtzukommen.
Schon früh wurde deutlich, dass Luka die Welt anders wahrnimmt. Während andere Kinder mühelos Freundschaften schlossen, blieb Luka oft aussen vor. Laute Geräusche, Gruppen und unerwartete Berührungen waren überwältigend. Erst Jahre später veränderte eine Autismus-Diagnose Lukas Blick auf sich selbst und die Welt.
Doch mit dem Wissen kamen auch neue Herausforderungen: Wie geht man mit einer Gesellschaft um, die Autismus oft missversteht? Und wie meistert man den Alltag ohne ständige Reizüberflutung? Im Interview erzählt Luka offen von diesen Erfahrungen.
Wie hat sich die Autismus-Spektrum-Störung in deiner Kindheit bemerkbar gemacht?
Luka: Ich habe schnell gemerkt, dass ich anders als andere Kinder bin. Meine Eltern sagten früher oft: "Übertreibe nicht" oder "Schliesse dich nicht selbst aus". Sie verstanden nicht, dass ich alles intensiver wahrnehme. Ich habe mich nicht selbst ausgegrenzt, ich hatte Schwierigkeiten mit sozialen Interaktionen, hatte ein Problem mit Lautstärke und war schnell reizüberflutet, vor allem in Gruppen. All diese Schwierigkeiten bestehen natürlich immer noch – nur heute kann ich sie mir besser erklären und weiss, wie ich damit umgehen kann.
Über Autismus
- Autismus ist eine komplexe neurologische Entwicklungsstörung, die soziale Interaktion, Kommunikation und Verhalten beeinflusst. Betroffene von Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) haben oft Schwierigkeiten, soziale Signale zu erkennen, zeigen repetitive Verhaltensmuster und sind empfindlich gegenüber Sinneseindrücken.
Wie hast du dir die Symptome damals erklärt?
Ich hatte keine Erklärung dafür. Ich habe nur gesehen, dass Kinder sich für andere Dinge interessieren, dass sie in Gruppen rumhängen, während ich oft allein war. Besonders als es in der Pubertät um Beziehungen ging, konnte ich damit gar nichts anfangen. Meine Eltern haben mein eher zurückgezogenes und schüchternes Verhalten damit erklärt, dass ich zu früh geboren wurde. Ich wusste nur: Ich bin anders als die anderen, ich bin anscheinend "komisch".
War es für dich schwierig, Freundschaften zu schliessen?
Ich hatte immer einzelne Freund:innen, aber es war schon immer sehr schwierig. Ich wollte nicht allein dastehen und habe immer gefragt, ob Leute Zeit haben – aber es kam oft nicht viel zurück. In der Schule war ich in den Pausen oft allein. Das Lernen hat mir immer Spass gemacht, aber das Soziale ringsherum war für mich schwierig. Besonders Gruppenarbeiten waren für mich der Horror – am Ende blieb immer ich übrig, weil sich alle anderen schneller zusammenfanden. Neurotypische Menschen vernetzen sich so schnell, da komme ich nicht hinterher.
Was bedeutet neurotypisch?
- Der Begriff "neurotypisch" wird verwendet, um Menschen zu beschreiben, deren Wahrnehmung, Kommunikation und soziale Interaktion den gesellschaftlichen Normen entsprechen.
- Er steht im Gegensatz zu dem Begriff "neurodivergent", der Menschen mit neurologischen Besonderheiten wie Autismus oder ADHS beschreibt.
Hattest du Strategien oder Rückzugsorte, um mit stressigen Situationen klarzukommen?
Ich habe mich in Parallelwelten geträumt und mir Geschichten ausgedacht, in denen ich jemanden an meiner Seite hatte. Mir war immer bewusst, dass das nicht real ist, aber es hat mir Halt gegeben. Ausserdem habe ich viel gelesen. So hatte ich etwas zu tun und es fiel weniger auf, dass ich allein war. Lesen war für mich eine Flucht, um die Realität zu vergessen.
Wann kam der Verdacht auf, dass du autistisch sein könntest?
Das war vor etwa drei oder vier Jahren. Vor allem bei weiblich sozialisierten Menschen ist es recht üblich, dass Autismus erst spät diagnostiziert wird. Im Gegensatz zu anderen wurde ich sogar noch recht früh diagnostiziert. Ich bin schon lange als Buchblogger:in auf Instagram aktiv und folge dort einer Mutter, die über ihre autistische Tochter berichtet hat. Ich habe diese Beiträge immer sehr interessiert gelesen und einige Parallelen zu mir entdeckt. Da habe ich mich gefragt: Kann es sein, dass ich auch autistisch bin?
Ein halbes Jahr nach meinem eigenen Verdacht habe ich es geschafft, meinen Eltern von der Vermutung zu erzählen. Mama war zu der Zeit im Krankenhaus und ich wollte Papa nicht auch noch mit meiner Vermutung belasten, deshalb habe ich gewartet. Witzigerweise hat mein Papa genau in dieser Zwischenzeit aber zum allerersten Mal zu mir gesagt, dass mein Verhalten fast etwas Autistisches habe.
Wie haben deine Eltern auf deine Vermutung reagiert?
Sie waren nicht wirklich überrascht, aber sie haben nicht verstanden, warum mir eine offizielle Diagnose so wichtig war. Für mich war es essenziell, Klarheit zu haben. Schliesslich habe ich einen Diagnostik-Termin bekommen und nach drei Gesprächen und einigen Tests wurde es bestätigt: Ich bin Autist:in. Meine Eltern haben mich immer so genommen, wie ich bin. Trotzdem macht es auch für sie inzwischen einen grossen Unterschied, den Grund hinter meinem Verhalten zu kennen. Mit dem Wissen können sie anders mit mir umgehen und verstehen mich besser.
"Ich bin nicht komisch, ich bin autistisch. Und das ist okay."
Und wie hast du dich gefühlt, als du erfahren hast, dass du Autist:in bist?
Am Abend vor dem finalen Termin war ich unsicher: Ist es besser, neurotypisch zu sein und mein Verhalten nicht erklären zu können oder dem Ganzen endlich einen Namen geben zu können? Als ich die Bestätigung erhielt, dass ich Autist:in bin, habe ich mich leicht gefühlt. Endlich ergab so vieles einen Sinn. Ich wusste nun, warum ich mich immer so anders gefühlt hatte, warum die Schulzeit so verdammt schwierig war und warum mir viele zwischenmenschliche Dinge schwerfallen: Ich bin nicht komisch, ich bin autistisch. Und das ist okay.
Wie hat sich dein Leben nach der Diagnose verändert?
Die Diagnose hat mir unglaublich geholfen, mich selbst zu verstehen und meine Bedürfnisse ernst zu nehmen. Ich habe gelernt, mich vor Reizüberflutung zu schützen, Pausen zu machen und mich aus stressigen sozialen Situationen zurückzuziehen. Ich weiss jetzt, dass meine Wahrnehmung richtig ist und dass ich nicht übertreibe. Ich erlaube mir, Auszeiten zu nutzen und mich zum Beispiel vor Lautstärke zu schützen – ich muss sie nicht aushalten, nur weil es alle anderen tun. Auch meine Eltern und mein Umfeld verstehen mich jetzt besser. Die Diagnose hat mein Leben definitiv zum Besseren gewendet. Inzwischen berichte ich ausserdem auf meinem Instagram-Account offen über meine Erlebnisse und Erfahrungen als Autist:in.

Ausserdem gehe ich in eine Selbsthilfegruppe für Autist:innen. Gerade die ersten Sitzungen waren eine krasse Erfahrung. Ich habe gemerkt: Es gibt Menschen, die denken wie ich. Ich bin nicht allein. Plötzlich war ich nicht mehr die einzige "komische" Person – alle waren es. Und genau deshalb war es keiner mehr. Es gibt viele von uns und es gibt Unterstützung für uns.
Wie reagieren Menschen typischerweise, wenn du ihnen von deinem Autismus erzählst?
Alle nehmen es einfach hin. Einige meinten, es würde sie wenig überraschen. Die meisten wollen nur wissen, wie es mir damit geht. Es hilft mir, offen mit der Diagnose umzugehen. Dadurch muss ich weniger Masking betreiben und kann so sein, wie ich bin.
Was ist Masking?
- Masking beschreibt in der Psychologie die bewusste oder unbewusste Anpassung an neurotypische Verhaltensweisen, um sozial akzeptiert zu werden und nicht aufzufallen. Autistische Menschen unterdrücken dabei ihre eigenen Ausdrucksformen und imitieren neurotypische Mimik, Gestik oder Kommunikationsmuster.
Eine Schwierigkeit, mit der du oft zu kämpfen hast, ist Reizüberflutung. Wie äussert sich das konkret?
Mein Gehirn kann äussere Reize dann nur schwer filtern und kommt irgendwann nicht mehr hinterher. Ich nehme Geräusche plötzlich lauter wahr und Gespräche strengen mich extrem an. Man spricht dabei auch von einem Overload. Wenn ich in diesem Zustand nicht rechtzeitig Pausen mache oder mich aus der Situation zurückziehe, kann es zu einem Meltdown oder Shutdown führen.
Wie machen sich Meltdown und Shutdown bei dir bemerkbar?
Ein Meltdown ist ein impulsiver, emotionaler Ausbruch. Einige Menschen im Autismus-Spektrum schreien laut und wirken aggressiv. Das ist bei mir ganz anders. Daher dachte ich anfangs, dass ich so etwas wie Meltdowns gar nicht habe. Aber es zeigt sich bei mir eben anders: mit ganz starkem Weinen. Ich kann dann kaum noch klar denken und nicht mehr verbal kommunizieren – nur schreiben oder Gebärdensprache gehen noch. Solche Meltdowns hatte ich leider schon viele.
Shutdowns habe ich zum Glück nicht regelmässig – bislang hatte ich nur einen. Das war aber sehr gruselig: Der Körper und das Gehirn schalten ab. Ich werde still, kann mich kaum noch bewegen, nicht sprechen, nicht schreiben oder mit Gebärdensprache kommunizieren. Es wirkt dann oft so, als wäre ich plötzlich "weg". Trotzdem bekomme ich alles mit, was um mich herum passiert. Es wäre schön, wenn neurotypische Menschen dieses Verhalten von Autist:innen auch als solches wahrnehmen würden: Es ist eine massive Überforderung der Person – und nichts, was sie böswillig oder absichtlich macht.
Begegnen dir noch weitere Missverständnisse über Autismus?
Am häufigsten, dass es so etwas wie "ein bisschen autistisch sein" gebe. Entweder ist man autistisch oder nicht. Aber Autismus ist ein Spektrum, das viele verschiedene Bereiche betrifft, wie Reizverarbeitung, soziale Interaktionen, Interessen. Jede:r Autist:in ist anders.
"Ich verstehe nicht, warum neurotypische Menschen so oft fragen, wie es einem geht, wenn sie es gar nicht wirklich wissen wollen."
Gibt es irgendwelche Dinge im Umgang mit neurotypischen Menschen, die dich frustrieren?
Dass sie oft Hände schütteln.
Das magst du nicht?
Nein, gar nicht. Ausserdem verstehe ich nicht, warum neurotypische Menschen so oft fragen, wie es einem geht, wenn sie es gar nicht wirklich wissen wollen.
Was wünschst du dir von der Gesellschaft im Umgang mit Autist:innen?
Mehr Sensibilität, vor allem in Bezug auf Reizüberflutung und körperliche Berührungen. Ich hasse es, wenn mich jemand ohne Vorwarnung zum Beispiel an den Schultern anfasst. Ich versuche meistens, das auszuhalten, aber ich finde es sehr unangenehm. Mit Berührungen von Personen, die ich kenne, komme ich aber meistens klar.
Über Luka
- Mit 18 wurde bei Luka eine Autismus-Spektrum-Störung diagnostiziert. Inzwischen studiert Luka Gebärdensprachdolmetschen und ist Aktivist:in und Blogger:in auf Instagram (@mari_monoceros).
- Luka ist nonbinär und nutzt die Pronomen "dey"/"demm". Deshalb wurde im Interview auch etwa bei dem Wort "Autist:in" mit Doppelpunkt gegendert.
Verdacht auf Autismus? Diese Schritte können helfen
- Online-Selbsttests wie die des "Autism Research Centre" (Tests auch auf Deutsch verfügbar) können erste Hinweise geben, ersetzen aber keine Diagnose.
- Fachliche Unterstützung suchen und den Hausarzt oder Psychotherapeut oder Autismus-Therapie-Zentren kontaktieren.
- Gegebenenfalls an eine Spezialambulanz für Autismus für eine Sprechstunde wenden.
- Diagnostik durch Fachpersonal: Die Diagnose wird anhand von speziellen Interviewfragebögen und Testaufgaben gestellt.
Verwendete Quellen
- Autismus.de: Was ist Autismus?
- gesund.bund.de: Autismus
- lwl-klinik-paderborn.de: Welche Beschwerden hat ein Kind mit Autismus?
- vshg-asperger-eltern.ch: Was ist ein Overload / Meltdown / Shutdown?
- autismresearchcentre.com: Tests
- apotheken-umschau.de: Was kann ich tun, wenn ich glaube, Autismus zu haben?