Wer in der Deutschschweiz keinen Dialekt spricht, fühlt sich schnell ausgeschlossen. In der Westschweiz hingegen sind Patois-Sprecher Exoten. Der Dialektgebrauch unterscheidet sich in der Schweiz sehr stark je nach Landesteil. Das hat überraschende Gründe.
Am Telefon:
"Kantoonspolizäi, Grüezi"
"Süddeutsche Zeitung aus München, Grüzi"
"Grüss Gott"
Dieser Dialog stammt aus einer Schweizer Notrufzentrale. Derartige Gespräche wurden für Forschungszwecke aufgezeichnet und von einem Team unter der Leitung der Professorin Helen Christen ausgewertet.
Laut der Forscherin zeigt der oben genannte Dialog, wie Deutschschweizer – auch Polizisten – jedes Gespräch mit Unbekannten auf Dialekt beginnen und dann aufgrund subtiler Hinweise, der Gesprächspartner sei des Dialektes nicht mächtig, auf Hochdeutsch wechseln.
Das geht so weit, dass das Wechseln auf Hochdeutsch vom Gesprächspartner als Beleidigung empfunden werden kann, weil er dies als Signal interpretiert, als nicht zugehörig zu gelten. Dann beispielsweise, wenn jemand automatisch aufgrund der dunklen Hautfarbe oder des exotischen Aussehens auf Hochdeutsch statt Schweizerdeutsch angesprochen wird, bevor die entsprechende Person überhaupt den Mund aufgemacht hat.
Niemand kann nur noch Dialekt
In der Deutschschweiz ist Dialekt kein Merkmal der sozialen Unterschicht. Alle nutzen ihn – ob zu Hause oder bei der Arbeit. Sogar Radio und Fernsehen sind zu einem grossen Teil auf Schweizerdeutsch. Und ein Rückgang ist nicht in Sicht, im Gegenteil. "Es gibt einzelne Hinweise auf eine Zunahme des Dialektgebrauchs, beispielsweise an Schulen und in den Medien", sagt Regula Schmidlin, Professorin für Germanistische Linguistik an der Universität Freiburg. Das erkläre man sich mit der Informalisierung der Kommunikation, die den Dialektgebrauch begünstige.
Es gibt laut Schmidlin aber auch Gegenbewegungen. So seien die Nachrichtenformate am Schweizer Radio und Fernsehen seit 2007 konsequenter hochdeutsch. Zudem gebe es heute kaum noch Menschen, die von sich sagen, nur Dialekt zu sprechen. Anders gesagt: Die meisten Deutschschweizer beherrschen sowohl Dialekt als auch Hochdeutsch und verwenden diese Sprachformen in unterschiedlichen Situationen.
Weil vor allem die jüngere und mittlere Altersgeneration die dialektalen Varietäten im informellen Austausch vermehrt auch schriftlich verwendet, könnte sich laut Christen in der Deutschschweiz sogar eine "Zweischriftigkeit" entwickeln.
"Auch hier werden die Dialekte verschwinden"
Ganz anders stellt sich die Situation in der französischsprachigen Schweiz dar. In der Westschweiz wurden bis ins 19. Jahrhundert im Jura Franc-Comtois ("Patois jurassien", manchmal auch Frainc-Comtou genannt) und in der übrigen Westschweiz frankoprovenzalische Dialekte gesprochen. Letztere sind keine Dialekte des Französischen, sondern von romanischen Sprachen. Auf Französisch nennt man Dialekte auch "Patois".
Doch heute sprechen die meisten Westschweizer eine regionale Form des Hochfranzösischen mit einem lokalen Akzent. Die traditionellen Dialekte sind fast gänzlich verschwunden.
"Heute gibt es nur noch drei Regionen in der Westschweiz, in denen traditionelle Dialekte gesprochen werden", sagt der Romanist Andres Kristol von der Universität Neuenburg und zählt die Region Greyerz und den französischsprachigen Teil des Kantons Wallis auf, wo noch Frankoprovenzalisch gesprochen wird, sowie die Ajoie und die Freiberge, wo einige Personen noch das "Patois jurassien" beherrschen. "
Aber auch hier werden die Dialekte verschwinden: Die letzte Generation von Muttersprachlern ist 60 Jahre alt oder älter, und die Zahl der Sprecher nimmt rasch ab."
Ein "verdorbenes Französisch"
Woher kommt dieser frappante Unterschied zur Deutschschweiz, in der die Dialekte immer noch fest verankert sind?
Laut Kristol gibt es mehrere Gründe – interne, aber auch aus Frankreich "importierte" Faktoren:
- Französische Revolution:
In Frankreich wurde Patois während der Französischen Revolution bekämpft. "Aus ideologischen Gründen erklärten die Revolutionäre, dass man, um ein guter Franzose zu sein, Französisch sprechen müsse", erklärt Kristol. "Sie liessen die französische Bevölkerung glauben, dass ihre Dialekte 'verdorbenes Französisch' seien und dass das Sprechen des Dialekts die 'Reinheit' der französischen Sprache untergrabe."
Während der napoleonischen Besetzung der Schweiz seien diese Ideen auch in die Schweiz importiert worden. Laut Kristol war die Französische Revolution aber nicht der Hauptgrund für den Niedergang des Patois in der Westschweiz, wichtigere Ursachen seien wirtschaftliche Gründe gewesen.
- Industrialisierung:
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde der Jurabogen aufgrund der neu eingeführten Niederlassungsfreiheit sowie der rasch fortschreitenden Industrialisierung zu einem Magnet: "Arbeiter aus der ganzen Schweiz strömten in Städte wie La Chaux-de-Fonds oder Biel", sagt Kristol. Weil sich die Dialekte in der Westschweiz stark unterschieden und man sich untereinander kaum verstand, wurde Hochfranzösisch zur gemeinsamen Verständigungssprache.
Dazu kam die Landflucht: Weil Söhne und Töchter von Westschweizer Bauern in die Städte zogen, um dort zu arbeiten, wurden verlassene Höfe von Deutschschweizer Bauern übernommen. Deren Kinder lernten in der Schule Hochfranzösisch, keinen Dialekt. Laut Kristol waren die Regionen der Westschweiz, die ihre Dialekte länger bewahren konnten, weniger von Industrialisierung, Landflucht und Bevölkerungsveränderungen betroffen. "Aber auch hier bedroht die zunehmende Mobilität der Bevölkerung seit etwa 1920-1930 das Überleben der traditionellen Dialekte."
Deutschschweizer wollten sich von Nazi-Deutschland abgrenzen
Auch in der italienischsprachigen Schweiz haben wirtschaftliche Gründe und Migration zu einem Rückgang der lombardischen Mundarten geführt. Während bis in die 1960er-Jahre die Mehrheit der Tessiner zu Hause Dialekt sprach, waren es 2012 nur noch rund 30 Prozent. Eine ähnliche Tendenz zeigt sich auch im Italienischbünden, aber etwas schwächer ausgeprägt, weil diese Täler isolierter waren.
Die Einwanderung aus Italien ins Tessin sowie soziale und wirtschaftliche Veränderungen führten dazu, dass Hochitalienisch im Berufsleben wichtiger wurde. "In den 1950er- und 1960er-Jahren kam es deshalb zu einer Stigmatisierung des Dialekts", erklärt Matteo Casoni vom Osservatorio linguistico della Svizzera italiana. "Eltern wollten eine gute Zukunft für ihre Kinder und sahen im Dialekt ein Hindernis für Karriere und Gesellschaftsleben."
Casoni macht historische Gründe verantwortlich für die frappanten Unterschiede zwischen italienisch- und deutschsprachiger Schweiz: "In der Deutschschweiz hat Dialekt eine stark identitätsstiftende Rolle gespielt in der Abgrenzung zu Deutschland. Auch im Tessin wollte man sich gegenüber Italien und Mussolini abgrenzen, aber weniger stark."
Auch auf Italienisch haben digitale Kommunikation und Social Media zu einem Wiederaufleben der Dialekte geführt. "Durch die digitale Kommunikation bekam Dialekt wieder ein positives Image. Niemand hätte das erwartet!", sagt Casoni.
Rätoromanisch wieder hip
Die Schweiz hat eine vierte Landessprache, die hier nicht unterschlagen werden soll: Rätoromanisch. Die Sprache entstand im Gebiet des heutigen Kantons Graubünden aus der Vermischung von Volkslatein mit keltischen und rätischen Sprachen. Über die Jahrhunderte entwickelten sich zahlreiche rätoromanische Dialekte und fünf verschiedene regionale Schriftsprachen (Idiome).
Diese Vielfalt – oder Zersplitterung, je nach Sichtweise – erschwert den Erhalt der Sprache. Während in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch die Mehrheit der Bündner Bevölkerung Rätoromanisch sprach, sind es heute noch etwa ein Fünftel. Die meisten Rätoromanen sind zweisprachig und beherrschen nebst ihrem Idiom auch Deutsch, was den Erhalt der rätoromanischen Dialekte und Idiome ebenfalls erschwert.
In den letzten zwanzig Jahren hat sich das Image des Rätoromanischen verbessert. Während sie früher als "Bauernsprache" abgewertet wurde, gilt sie heute als hip. Viele junge Kulturschaffende verwenden heute bewusst Rätoromanisch.
Und für Markennamen wird vermehrt auf Rätoromanisch statt Englisch zurückgegriffen. So hat eine Bank sich den Namen "Cler" gegeben, was auf Rätoromanisch "klar, einfach, deutlich" heisst.
Bezüglich Dialekte und Sprachen bleibt es in der Schweiz also spannend – und in typisch schweizerischer Art vielfältig.
© swissinfo.ch
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.