Im westfälischen Lünen soll ein 15-Jähriger einen Mitschüler erstochen haben. Polizei und Staatsanwaltschaft haben mitgeteilt, dass der verdächtige Jugendliche laut einer Sozialarbeiterin als aggressiv und unbeschulbar galt. Das deckt sich mit den Erfahrungen des Kriminalpsychologen Mirko Allwinn. In den allermeisten Fällen passiere so etwas nicht aus heiterem Himmel, sagt er.
Herr Allwinn, Sie beschäftigen sich viel mit der Frage, warum junge Menschen gewalttätig werden. Was muss im Leben eines Jugendlichen passiert sein, dass er oder sie so weit geht, jemanden zu töten?
Zunächst einmal muss man sagen, dass Tötungshandlungen durch Jugendliche extrem selten sind. Wenn es aber dazu kommt, passiert das in den allermeisten Fällen nicht aus heiterem Himmel. Vielmehr gibt es eine Reihe von Ereignissen, die auf eine gewisse Aggressivität des Jugendlichen hindeuten.
Dabei handelt es sich wohlgemerkt nicht um eine Prügelei auf dem Schulhof oder wenn jemand einen anderen mal umschubst. Die Aggressivität äussert sich in ganz unterschiedlichen Situationen gegenüber allen möglichen Leuten.
Für Tötungsdelikte gibt es aber in aller Regel auch noch ein auslösendes Moment. Das kann ein Konflikt sein, ein Problem, das unlösbar erscheint, ein Schulverweis etwa oder eine anstehende Gerichtsverhandlung. Situationen also, die das Leben des Jugendlichen unter Umständen komplett über den Haufen werfen. So unter Stress und mit einer grossen Portion Frustration kann sich das Aggressionspotenzial dann entladen.
Welchen Einfluss haben Elternhaus, Schule oder das Umfeld darauf, ob die Gewalt eskaliert?
In der Kriminalpsychologie geht man immer von einem Zusammenspiel mehrerer Faktoren aus. Das sind die aktuelle Situation, die Umwelt - dazu gehören Schule, Familie, Freunde - und die Person selbst. In den seltensten Fällen ist eine Aggressionsneigung der Person selbst entscheidend, fast immer spielen alle Faktoren eine Rolle. Und zwar im positiven wie im negativen Sinn.
Wenn es nur eine oder zwei Personen im Umfeld des Jugendlichen gibt, die sich wirklich für ihn interessieren, ihm helfen und vom Jugendlichen selbst auch angenommen werden, kommt es seltener zu Gewaltausbrüchen. Dazu kommt das positive Rollenvorbild: Diese Menschen haben auch Probleme, aber sie zeigen, dass man sie auch anders lösen kann als mit Gewalt.
Gibt es Jugendliche, die besonders gefährdet sind, ein so grosses Aggressionspotenzial zu entwickeln, dass sie jemanden töten?
Es gibt da keine grossen Gemeinsamkeiten oder ein bestimmtes Profil. Manche Jugendlichen sind jedoch bereits vor der Tat durch massive Gewaltanwendung aufgefallen. Die Frage ist natürlich immer: Hat man hier einen Fall vor sich, der nie eskalieren wird oder einen der eskalieren kann? Dazu muss man sich aber jeden Fall einzeln ansehen.
Besonders ernst zu nehmen ist die Situation, wenn jemand aus dem nahen Umfeld des Jugendlichen die Sorge äussert, dass er oder sie jemanden töten könnte.
Noch seltener als Tötungsdelikte von Jugendlichen sind Tötungsdelikte von Kindern. Verstehen so junge Menschen überhaupt, was sie da tun?
Dabei handelt es meistens um unabsichtliche Taten. Man kennt das vor allem aus den USA. Wenn zum Beispiel eine Schusswaffe nicht kindersicher verwahrt wurde. Es gibt sicher auch Fälle von Jugendlichen mit einer psychischen Störung, die dazu führt, dass sie Fantasie und Wirklichkeit nicht trennen können, aber das ist die absolute Ausnahme.
Ansonsten geht man schon davon aus, dass sie ab einem gewissen Alter einschätzen können, was sie da tun. Welches Alter das ist, ist aber individuell, darüber entscheiden die Gerichte.
Welche Möglichkeiten gibt es zur Rehabilitation - oder besser noch zur Prävention?
In beiden Fällen ist eine Therapie eine gute Möglichkeit, am besten unter Einbeziehung des Umfelds, als Familientherapie zum Beispiel. Diese Therapie sollte altersangemessen sein und auf die Persönlichkeit des Jugendlichen zugeschnitten. Besonders geeignet sind hier Kinder- und
Jugendlichenpsychotherapeuten. Vor allem in den Haftanstalten ist das aber natürlich schwierig. Oft gibt es da zu wenig dafür ausgebildetes Personal.
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.