Wieso unternehmen wir nicht mehr gegen den Klimawandel und andere grosse Krisen? Auf diese Frage hat der Neurowissenschaftler Henning Beck gleich mehrere Antworten gefunden – und mindestens zwei Erklärungen sind typisch deutsch.

Ein Interview

Klimakrise, Krieg, Fachkräftemangel: An Krisen mangelt es derzeit nicht. Auch nicht an Ideen und Vorschlägen, wie wir die Probleme lösen könnten – doch so recht kommen wir nicht in die Gänge. Woran liegt das? Dieser Frage widmet sich der Neurowissenschaftler Henning Beck in seinem aktuellen Buch "12 Gesetze der Dummheit: Denkfehler, die vernünftige Entscheidungen in der Politik und bei uns allen verhindern". Im Interview erklärt er, warum uns die Zukunft egal ist und wo die Denkfehler bei Politik und Umweltaktivisten liegen.

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Herr Beck, was hat Sie dazu gebracht, dieses Buch zu schreiben? War das eine Verzweiflungstat angesichts der vielen Krisen und der Untätigkeit, die dem gegenübersteht?

Henning Beck: (lacht) Nein, das war eher eine Beobachtung. Mir ist aufgefallen, dass wir uns immer rühmen, in so fortschrittlichen, modernen, innovativen, wissenschaftsfreundlichen Zeiten zu leben. Aber wenn man sich anschaut, wie sich die Menschen verhalten, dann kommt man sich manchmal vor wie im Mittelalter. Es werden Fehlentscheidungen getroffen, es wird schlecht kommuniziert. Wir verhalten uns wider besseres Wissen und sind auf einmal gar nicht mehr so fortschrittlich und modern. Da habe ich mich gefragt: Woran liegt das?

Zu welchem Ergebnis sind Sie gekommen?

Ein wichtiger Grund, warum wir bei den drängenden Fragen wie dem Klimawandel nicht in die Gänge kommen, ist, dass uns die Zukunft egal ist. Das klingt erst einmal hart. Aber wenn man sich anschaut, wie sich Menschen die Zukunft oder ihr zukünftiges Ich vorstellen, wird es deutlich: Aus Sicht des Gehirns ist das zukünftige Ich eine fremde Person. Das lässt sich messen: Die Aktivität im mittleren vorderen Cortex, unserem Aufmerksamkeitszentrum, ist höher, wenn wir an unser gegenwärtiges Ich denken, als wenn wir an unser zukünftiges Ich denken. Warum sollte ich mich für eine fremde Person anstrengen, zu der ich keinen konkreten Bezug habe? Das ist für uns kognitiv gar nicht zu erfassen - deswegen ist uns emotional ziemlich egal, was in 50 oder 100 Jahren ist. Wir nehmen uns in der Gegenwart einfach zu wichtig und das führt dazu, dass wir für die Zukunft schlechte oder keine Entscheidungen treffen und lieber sagen, im Hier und Jetzt muss es funktionieren.

"Erst, wenn Menschen die Endlichkeit erfahren, machen sie sich über die Zukunft Gedanken."

Gilt das auch für Menschen, die Kinder haben? Sie sollten ja ein emotionaleres Verhältnis zur Zukunft haben als beispielsweise Kinderlose.

Das hatte ich auch gedacht, aber die Studienlage zeigt das nicht. Kinder führen nicht dazu, dass ein Mensch häufiger an seine eigene Zukunft oder generell an die Zukunft denkt. Es gibt nur zwei Dinge, die Menschen mehr an die Zukunft denken lassen: Schwere persönliche Schicksalsschläge in der Familie und die Diagnose einer schweren Krankheit. Also erst, wenn Menschen die Endlichkeit erfahren, machen sie sich über die Zukunft Gedanken.

Erst wenn wir verstehen, dass es schnell vorbei sein kann, sind wir also bereit, grosse Entscheidungen für die Zukunft zu treffen?

Auch mit der Endlichkeit vor Augen entscheidet es sich nicht besonders gut. Warum sollte man dann noch langfristige Entscheidungen treffen? Wenn ich will, dass Menschen bessere Entscheidungen für morgen treffen und sich Veränderungen durchsetzen, müssen die Vorteile sofort zünden – nur dann sind Menschen bereit, ihr Verhalten zu ändern. Wenn sie erst in vielen Jahren oder Jahrzehnten davon profitieren, ist die Motivation zu gering. Das Zukunfts-Ich ist uns, wie gesagt, ein bisschen egal.

Das heisst, die aktuellen Probleme sind derzeit noch nicht akut oder drängend genug, damit wir wirklich etwas ändern?

Genau. Immer, wenn die Probleme sehr drängend sind, werden Menschen kreativ und handeln lösungsorientiert. Wenn uns zum Beispiel ein Virus zu überrollen droht, dann findet man in kürzester Zeit einen Impfstoff. Wenn das Gas auszugehen droht, baut man ruckzuck Gasterminals an die Küste. Unter Druck werden Abstimmungswege plötzlich ganz kurz. Das ist auf der einen Seite gut, weil es unseren Erfindungsreichtum zeigt. Auf der anderen Seite ist es auch ziemlich bekloppt: Wir müssen kurz vor dem Untergang stehen, damit wir das Beste in uns zeigen.

Wenn die Folgen des Klimawandels erst einmal akut sind, ist das nicht mehr so einfach rückgängig zu machen. Wie kann man es schaffen, dass die Menschen früher handeln?

Dass sich Menschen jetzt gegen den Klimawandel einsetzen, schafft man nur, wenn die Menschen daraus jetzt einen konkreten Vorteil ziehen können. Die Annahme, dass Menschen sich aus ethischen, emotionalen oder moralischen Gründen für die Zukunft einsetzen, geht an der Wirklichkeit unseres Denkens vorbei. Auch eine Firma wird nicht investieren, wenn die Investition erst in 30 Jahren Gewinn abwirft. Das wäre betriebswirtschaftlicher Unsinn - denn woher soll ich wissen, was in 30 Jahren ist? Es muss also schnell ein konkretes, positives Wirksamkeitserlebnis geben - dann ändern Menschen ihr Verhalten.

"Die Annahme, mit genügend Radikalität eine Mehrheit zum Umdenken bringen zu können, ist falsch."

Es gibt eine ganze Reihe von Menschen, die sich schon jetzt für den Klimaschutz einsetzen und versuchen, Politik und Gesellschaft zum Handeln zu bewegen. In Ihrem Buch bewerten Sie die Protestform der Letzten Generation kritisch. Warum?

Der Fehler liegt darin, dass der Protest als Kampf verstanden wird. Der Kampf gegen ein System, der Kampf gegen eine bestimmte Art von Wirtschaft, der Kampf gegen die vorherrschenden Strukturen. Protestbewegungen oder gesellschaftliche Umbrüche waren in der Vergangenheit immer dann erfolgreich, wenn sie der Mehrheit ein Angebot gemacht haben, hinter dem sie sich versammeln konnte. Martin Luther King oder Nelson Mandela haben die Einheit der Nation beschworen und nicht den Kampf zwischen Schwarzen und Weissen. Es geht darum, die Dinge gemeinsam besser zu machen. Denn immer, wenn eine Front aufgemacht wird, hat man Leute gegen sich. Der Klimawandel ist aber ein zu grosses Problem, als dass man es gegen einen Teil der Gesellschaft durchsetzen könnte. Die Annahme, mit genügend Radikalität eine Mehrheit zum Umdenken bringen zu können, ist falsch.

Es fehlt also ein positives Narrativ, dem sich die Mehrheit der Menschen anschliessen wollen. Das Fehlen eines solchen Narrativs sehen Sie auch in der deutschen Politik.

Ja, ich habe den Eindruck, die Geschichte Deutschlands ist zu Ende erzählt. Wir hatten immer grosse Erzählungen - Wiederaufbau, Wirtschaftswunder, Wiedervereinigung -, was dazu geführt hat, dass die Politik auch parteiübergreifend an einem Strang gezogen hat. Heute fehlt uns eine Vision für die Zukunft. Was ist unsere Vorstellung davon, wie wir im Jahr 2030 leben wollen? Wie soll der Industriestandort aussehen? Was ist unsere Rolle in der Welt? Es wird nicht in grossen Dimensionen gedacht. Wir verzetteln uns im Kleinklein. Kinder- oder Bürgergeld - das sind keine radikalen Gamechanger, die eine Gesellschaft verändern.

Warum Menschen gemeinsame Visionen und Pläne brauchen

Die aktuelle Politik wird bestimmt von Streitereien und kurzfristigem Denken. Warum Menschen stattdessen aber klare Zielvorstellungen bräuchten, um das Vertrauen in die agierenden Personen und ihr Handeln nicht zu verlieren, erklärt der Neurowissenschaftler Henning Beck in der neuen Ausgabe seiner Wissenschaftskolumne "Die Psychologie hinter den Schlagzeilen".

Welche "Dummheit" begeht die Politik aus Ihrer Sicht noch?

Ein wichtiger Antrieb für uns Menschen ist das Erleben von Wirksamkeit. Immer wenn ich etwas tue und sehe, das einen positiven Effekt hat, treibt mich das an. Wenn das in der Politik passiert, also konkrete Probleme mit konkreten Massnahmen bekämpft werden, dann sind die Zufriedenheitswerte sehr hoch. Zu Beginn der Corona-Pandemie war das so: Die Politik hat Lösungen gesucht und die Lösungen kamen schnell. Das ist wichtig, denn ansonsten kann das Gehirn keine Verknüpfung herstellen. Aber oft dauert das alles viel zu lange.

Verbote sind konkrete Massnahmen, die schnell wirken. Sie sagen aber, Verbote schaden mehr als sie nützen. Was ist der bessere Weg?

Verbote funktionieren, wenn sie nicht besonders weh tun oder wenn es eine gute Alternative oder Ausweichmöglichkeit gibt. Ein Rauchverbot in Innenräumen ist leicht durchzusetzen, denn es gibt eine Alternative: draussen rauchen. Am Anfang gibt es immer Reaktanz, also Menschen, die aus Prinzip dagegen sind. Aber irgendwann passen sich auch diese Menschen an. So war es beim Rauchverbot oder bei der Gurtpflicht im Auto.

"Die Königsdummheit ist, dass wir uns selbst so extrem wichtig nehmen."

Wenn Menschen durch ein Verbot aber massive emotionale oder persönliche Verluste hinnehmen müssen und keine Alternative dafür haben, lassen sich Verbote nicht durchsetzen. Wir können Alkohol nicht verbieten, auch wenn das extrem sinnvoll wäre - es gibt keine Alternative. Wenn ich Menschen aber die Möglichkeit gebe, sich ohne Nachteile besser zu verhalten, kann ich sie mit einem Verbot dahin stossen. Nur ein Verbot zu erlassen und zu hoffen, dass die Menschen von allein ein neues Verhalten zeigen, funktioniert nicht.

Mein Eindruck nach der Lektüre Ihres Buches ist, dass unser grösstes Problem vielleicht unsere eigene Arroganz ist. Was würden Sie sagen: Was ist die schlimmste der von Ihnen erwähnten zwölf Dummheiten, die wir Menschen begehen?

Die Königsdummheit ist, dass wir uns selbst so extrem wichtig nehmen und uns in unseren Ansichten immer bestätigen wollen. Menschen lieben es, ihre Ansichten zu schützen, weil sie sich dann selbst für den Mittelpunkt der Welt halten. Dann hinterfragen wir unsere Ansichten nicht mehr - was dazu führt, dass wir überheblich werden. Mit dieser Hybris trifft man schlechte Entscheidungen.

In Ihrem Buch behandeln Sie das unter "Dummheit Nr. 1: Bildung schützt vor Dummheit nicht". Ich bin bislang davon ausgegangen, dass Bildung die Lösung für viele Probleme ist …

Bildung ist natürlich gut, keine Frage. Aber die Annahme, dass sich Menschen durch mehr Wissen auch wissenschaftlicher – sprich: selbstkritischer – verhalten, ist falsch. Im Gegenteil: Wenn ich Menschen mit sehr viel Wissen "bewaffne" und rhetorisch ausstatte, dann können sie sich sehr gut gegen andere Meinungen verteidigen. Wissen und Rhetorik schulen uns nicht darin, uns selbstkritisch zu hinterfragen. Die Bildung kommt, aber das unwissenschaftliche Denken bleibt. Und das führt letztendlich dazu, dass sich auch gebildete Menschen dumm verhalten. Die schlagkräftigsten, dogmatischsten Menschen findet man häufig unter gebildeten Personen und nicht bei Leuten, die sehr pragmatisch einfach Probleme lösen.

Eine weitere Ursache für irrationales Denken ist Ihrem Buch zufolge die Sehnsucht nach Erlösung. Was genau ist damit gemeint?

Wir alle wünschen uns emotionale Sicherheit und wollen Kontrollverlust unbedingt vermeiden. Die Angst vor Kontrollverlust ist die Urangst unserer Existenz - Sie können alle Ängste des Menschen auf Kontrollverlust zurückführen. Eine kontinuierliche, emotionale Sicherheit ist, was Religionen, Philosophien und Weltanschauung versprechen. Die Wissenschaft hat nur Erklärungen im Angebot. Unser ganzer Wohlstand baut auf wissenschaftlichem und technologischem Fortschritt auf - aber diese emotionale Sicherheit bietet er den Menschen nicht. Im Gegenteil: Je mehr ich weiss, desto mehr weiss ich auch, was ich nicht weiss. Das bietet keine Kontrolle. Daher sind Menschen extrem verunsichert durch Technologie. Wir sehnen uns nach einfachen, grundsätzlichen Erklärungsmustern – besonders dann, wenn die Unsicherheit gross und die Entwicklungen gewaltig sind.

Wie lässt sich diesem Trend zu postwissenschaftlichem Denken am besten begegnen?

Das lässt sich am besten überwinden, indem ich die Perspektive wechsele und einen Blick von aussen auf mich selbst gewinne. Das gelingt aber nur, wenn ich mich mit anderen Menschen austausche. In der Wissenschaft ist das gängige Praxis: Da schauen andere Menschen kritisch auf die Forschung. Das ist nichts Persönliches, das ist eine sachliche Auseinandersetzung und am Ende versucht man, in der Sache besser zu werden. Das bedeutet auch, dass man sich selbst nicht zu ernst nehmen darf und den Austausch suchen muss.

Eine typisch deutsche "Dummheit", die Sie in Ihrem Buch beschreiben, ist mangelnde Risikobereitschaft. Was stimmt da nicht mit uns Deutschen?

Das frage ich mich auch. Deutschland ist eines der ganz wenigen Länder, in dem die Angst vor Verlust bei steigendem Wohlstand zunimmt. Das ist paradox. Das Muster findet man in allen Parteien: Alle wollen irgendwas beschützen - ob das nun die Umwelt, das Land oder die Kultur ist. Wir investieren weniger in die Zukunft als andere Länder, denn wir Deutschen sind Risikovermeider. Das ist nicht besonders clever, denn in der Geschichte zeigt sich, dass risikofreudigere Kulturen und Nationen langfristig erfolgreicher sind.

"Pessimismus löst ganz sicher keine Probleme."

Mut, Optimismus und Risikobereitschaft machen die Welt besser. Denn wer nie ein Risiko eingeht und bereit ist, Fehler zu machen, wird auch nie etwas Neues ausprobieren und besser werden. Das ist vor allem in einem Land problematisch, das über keinerlei Ressourcen verfügt, sondern den Wohlstand allein seinem Erfindungsreichtum verdankt. In den letzten Jahrzehnten wurde aber kein einziges globales Weltunternehmen in Deutschland mehr gegründet. Alle grossen Unternehmen wie Allianz, Siemens, BASF oder Daimler sind über hundert Jahre alt. Es ist plausibel anzunehmen, dass das damit zusammenhängt, wie reich, alt und satt wir sind.

Das sind düstere Zukunftsaussichten für Deutschland ...

Auch das ist eine weitere, typisch deutsche "Dummheit": Pessimismus. Wir Deutschen sind darin nach den Franzosen Weltspitze. Es ist wirklich faszinierend, wenn man in Talkshows darauf achtet: Die besten Analytiker und grössten Intellektuellen in Deutschland sind häufig die grössten Pessimisten. Pessimisten klingen immer schlau. Sie haben das Träumen verlernt und kommen zu dem Schluss, dass es für die grössten Probleme keine Lösung gibt. Aber um die Welt besser zu machen, muss ich darauf vertrauen, dass es eine Lösung gibt, die ich vielleicht noch nicht kenne. Wenn es hart auf hart kommt, sind wir Menschen extrem erfindungsreich. Und Pessimismus löst ganz sicher keine Probleme.

Zur Person:

Warum die Zukunft doch immer anders wird als gedacht

Der Herbst und der Winter stehen vor der Tür. Corona klopft leise an ... Aber ist Ihnen etwas aufgefallen? Anders als in den letzten Jahren gibt es keine Modellierungen der Ausbreitung des Virus und der Fallzahlen. Warum die Zukunft meistens doch anders kommt als gedacht, erklärt der Neurowissenschaftler Henning Beck in der neuen Ausgabe seiner Wissenschaftskolumne "Die Psychologie hinter den Schlagzeilen".
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