Er hat über 300 Bücher verfasst, arbeitet als Redner, Coach und Seelsorger. Nun ist Pater Anselm Grün 80 Jahre alt geworden. Im Interview erklärt der Mönch, wie er auf unsere aktuelle Gesellschaft blickt, was ihm Hoffnung gibt – und welche Sätze seiner Mutter ihn geprägt haben.

Ein Interview

Pater Anselm, Sie sind der wohl bekannteste Mönch Deutschlands und gelten als scharfer Beobachter der Gesellschaft. Mit welchen Worten würden Sie die aktuelle gesellschaftliche Lage hierzulande beschreiben?

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Anselm Grün: Momentan erlebe ich, dass die Gesellschaft eher pessimistisch ist. In den 1960er-Jahren war die Gesellschaft zum Beispiel viel hoffnungsvoller. Die Gesellschaft ist polarisiert und unfähig zum normalen, guten Austausch miteinander. Man sagt einfach seine Meinung. Zugleich erlebe ich dennoch viele Menschen, die sehr sensibel sind, die Verantwortung übernehmen für andere und die etwas Gutes in die Welt hineintragen. Das macht mir Hoffnung.

Was bewegt die Menschen inhaltlich?

Wenn ich mit den Menschen über ihre grössten Sorgen und Nöte spreche, dann sind das vor allem die Angst vor der Zukunft, dem Klimawandel, vor Krieg und Tyrannen. Ausserdem erlebe ich die Angst, dass der wirtschaftliche Wohlstand nicht einfach so weitergeht.

"Recht haben und Anklagen statt Zuhören und Verstehen – das macht mir schon Sorgen."

Anselm Grün

Gibt es Veränderungen, die Ihnen in den letzten Jahren besonders aufgefallen sind?

Die sozialen Medien haben die Gesellschaft verändert, weil jeder auch anonym seine Meinung sagen kann und dann einfach nur seine ungefilterten Emotionen rauslässt. Es wird sofort geurteilt und man nimmt sich überhaupt nicht mehr die Zeit, den anderen zu verstehen. Recht haben und Anklagen statt Zuhören und Verstehen – das macht mir schon Sorgen. Ich habe die Hoffnung, dass diejenigen, die dies wahrnehmen, doch eine andere Kultur in die Gesellschaft hineinbringen können.

Derzeit erleben wir Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten, unsere Regierung ist auseinandergebrochen, an vielen Orten haben Rechtspopulisten Aufwind. In solchen Krisenzeiten ist es oft schwierig, Hoffnung zu finden. Wie ist das bei Ihnen persönlich: Was gibt Ihnen Hoffnung?

Das habe ich von daheim mitbekommen: Ich bin 1945 geboren, nach dem Krieg musste mein Vater einen Konkurs anmelden. Das war schwierig für die Familie mit sieben Kindern. Aber meine Mutter sagte immer diesen einen Satz: "Man darf nie die Hoffnung verlieren, auch in so schwierigen Zeiten darf man nie die Hoffnung verlieren – und Hoffnungen sind keine Erwartungen. Denn Erwartungen können enttäuscht werden. Hoffnungen sind mehr als konkrete Vorstellungen." Das hat mich zu einem hoffenden Menschen gemacht. Meine Hoffnung wird nicht zerstört, wenn meine Erwartungen nicht erfüllt werden.

Welche Rolle spielt Spiritualität dabei?

Ich glaube daran, dass jeder Mensch eine spirituelle Sehnsucht und eine Sehnsucht nach dem Guten hat. Wenn ich Kurse beispielsweise für Führungskräfte gebe, die vielleicht gar nicht kirchlich sind, versuche ich dennoch diese Weisheit der Seele zu stärken, ohne dass ich die Menschen belehren muss. Es wohnt schon in ihnen. Das ist für mich entscheidend: der Glaube an die Sehnsucht der Menschen nach dem Guten, nach Harmonie, nach einem guten Miteinander.

Wie vermittelt man so etwas?

Wenn ich jemanden begleite, muss ich hoffen, dass seine Wunden in Perlen verwandelt werden. Ich begleite oft Menschen, die sehr verletzt worden sind in der Kindheit. Manche fühlen sich dann in der Opferrolle – die Eltern sind schuld, dass alles so schwierig ist, oder die Gesellschaft ist schuld, dass sie nicht richtig leben können. Für mich ist immer wichtig, nicht in der Opferrolle zu bleiben. Jede schwierige Erfahrung kann auch zur Perle werden, zu etwas Kostbarem. Ich habe etwas durchgemacht, das war schwer, aber ich habe es auch durchgestanden und das macht mich wertvoller und ich kann vielleicht sensibler mit anderen Menschen umgehen.

Gibt es auch Momente, in denen Sie die Hoffnung verlieren oder in denen Ihnen das besonders schwerfällt? Man denke an die Bilder aus den Kriegsgebieten, die tagtäglich in den Nachrichten zu sehen sind.

Es tut mir weh, das zu spüren und wahrzunehmen, wie viel Böses und wie viel Vernichtungswillen in der Welt sind. Menschen, die verletzt sind, verletzen andere. Da ist es aus meiner Sicht die Aufgabe, die Verletzungen anzuschauen, sich damit auszusöhnen und eben nicht auszuagieren. Das erlebe ich in der heutigen Gesellschaft immer wieder: Verletzungen werden ausagiert und dann werden sie immer grösser. Trotzdem habe ich die Hoffnung, dass das nicht immer so weitergehen kann, dass die Menschen irgendwann aufwachen.

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Und Spiritualität kann dabei helfen?

Ich spüre schon, dass die Menschen eine spirituelle Sehnsucht haben. Natürlich haben sie oft mit der Kirche Probleme oder die Kirche ist nicht mehr der Anker, an dem sie sich festhalten können. Aber eine spirituelle Sehnsucht ist da – und da sehe ich es als meine Aufgabe, diese anzusprechen. Die Menschen müssen ihrer Sehnsucht trauen und spüren: Da ist doch die Sehnsucht nach Sinn, nach anderen Werten, nach Transzendenz, nach dem Geheimnis, das grösser ist als wir selbst.

Mal ganz praktisch, wie geht das im Alltag?

Da gibt es vor allem zwei Dinge. Das eine ist der Grundsatz "Verstehen statt Bewerten" – auch in Bezug auf das eigene Selbst. Wir müssen versuchen, die Menschen zu verstehen: Warum hat jemand so eine aggressive Meinung? Was steckt dahinter? Wie verletzt muss er sich fühlen? Welche Angst steckt dahinter? Nur, wenn ich jemanden verstehe, kann sich etwas wandeln.

Das andere ist die Brille der Dankbarkeit. Das heisst nicht, dass man sich vor dem Negativen verschliesst. Es heisst, Gründe für Dankbarkeit zu suchen – eine gute Begegnung, ein gutes Gespräch, meine Familie und Freunde. Dankbarkeit ist eine wichtige Quelle, um nicht in den Sog des Pessimismus zu geraten.

Wie blicken Sie in die Zukunft, auf welche Trends schauen Sie besonders?

Künstliche Intelligenz und Fake News sind solche Sorgen. Dass die Lüge salonfähig geworden ist, das macht mir schon Sorge. Dass man nicht mehr weiss, was ist wahr und was nicht. Umso wichtiger ist es, eine Sprache zu sprechen, die ermutigt und verbindet – und nicht spaltet und anklagt.

80 Jahre sind ein stattliches Alter: Haben Sie ein Geheimrezept für ein langes Leben?

Ich habe einen guten Tagesrhythmus, aber ich gehe nicht ins Fitnessstudio oder so. Im Urlaub bin ich wandern. Ich sage Ja zum Leben. Ich denke, es ist wichtig, so einen inneren Antrieb zu haben. Mit 80 hat niemand die Garantie, noch ewig zu leben. Ich lebe gern, aber ich bin auch bereit zu gehen, wenn es nötig ist. Ich bin dankbar für das Leben, das ich bis hierhin schon gelebt habe und hoffe, dass es noch gut weitergeht.

Zur Person

  • Pater Anselm Grün ist Mönch der Benediktinerabtei Münsterschwarzach. Ausserdem ist er Betriebswirt, Führungskräftetrainer sowie Autor spiritueller Bücher und Referent. Am 14. Januar 2025 ist er 80 Jahre alt geworden.
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