Minderheitensprachen in Europa werden seit einiger Zeit geschützt und gefördert, um sie vor dem Aussterben zu bewahren. Auch das Schweizer Rätoromanisch gilt als gefährdete Sprache.

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Was haben Samen und Karelier in Skandinavien mit Rätoromanen in der Schweiz gemeinsam? Sie sprechen eine gemäss Unesco-Atlas gefährdete Minderheitensprache. Nur noch 0,5 Prozent der Schweizer Bevölkerung sprechen Rätoromanisch, das sich aus der Vermischung von Volkslatein mit lokalen Sprachen im Kanton Graubünden entwickelt hat.

Laut einer Studie der Europäischen Kommission liegt die kritische Grenze der für das Überleben einer Sprache notwendigen Sprecher bei 300'000. Rätoromanisch liegt mit 35'000 Sprechern weit darunter. Laut Unesco sind weltweit die Hälfte der über 6000 Sprachen vom Aussterben bedroht.

Der Bund und der Kanton Graubünden investieren zusammen 7,6 Mio. Franken pro Jahr in den Erhalt von Rätoromanisch. Dazu kommen rund 25 Mio. Franken Gebührengelder, die in das öffentlich-rechtliche rätoromanische Radio und Fernsehen (RTR) fliessen. Es gibt eine staatlich finanzierte rätoromanische Nachrichtenagentur sowie einen Buchverlag.

Das ist zu viel des Guten, sagen Kritiker. Das ist das notwendige Minimum, findet hingegen die romanische Dachorganisation Lia Rumantscha.

Gefährdete Sprachen in der Schweiz

Ob zu viel oder zu wenig: Freiwillig ist das Engagement der Schweiz für ihre Minderheitensprachen nicht. Die Eidgenossenschaft hat 1997 die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen ratifiziert. Sie muss alle drei Jahre mit einem Bericht Rechenschaft ablegen.

Und der Europarat rügt, lobt und gibt Empfehlungen, welche die Schweiz umzusetzen hat: So entwickelten Bund und Kanton in Anlehnung an die Vorgaben des Europarates beispielsweise je ein Sprachengesetz.

Nebst Rätoromanisch betrifft die Charta in der Schweiz noch weitere Minderheitensprachen, so das Italienische in Graubünden und Tessin sowie Frankoprovenzalisch, Walserdeutsch, Jenisch (die Sprache der Schweizer Fahrenden) und Jiddisch.

Nicht der Mammon ist das Problem…

Rätoromanisch steht im Vergleich zu anderen Minderheitensprachen im In- und Ausland nicht schlecht da, wie sogar die Lia Rumantscha einräumt. "Grundsätzlich wird dem Romanischen viel Wohlwollen entgegengebracht", sagt Andreas Gabriel von Lia Rumantscha.

Im Vergleich zu anderen Kleinsprachen im europäischen Vergleich habe Rätoromanisch beispielsweise einen guten rechtlichen Status, so werde sie offiziell anerkannt und gefördert. "Bei der Umsetzung hapert es jedoch häufig."

In der Praxis sei es zusehends so, dass die vierte Landessprache vergessen werde, meint Gabriel und nennt einige Beispiele:

  • Bund: Bei der neuen Stichprobenerhebung des Bundesamtes für Statistik werde behauptet, es gäbe Rätoromaninnen und Rätoromanen ausserhalb Graubündens nur in den Ballungszentren. Warum? Weil in den anderen Gebieten die Dichte der Stichproben nicht ausreiche, um sie hochzurechnen. Das Problem sei erkannt, der Wille es zu lösen, ist jedoch laut Gabriel nicht erkennbar.
  • Medien: Die Tagesschau habe über die Vielsprachigkeit des Landes berichtet und dabei das Land in drei statt vier Sprachregionen aufgeteilt.
  • Schule: Um das Bewusstsein für die vierte Sprachgruppe in der Schweiz zu erhöhen, wünscht sich Lia Rumantscha, dass das Rätoromanische im Lehrstoff der anderen Landesteile Eingang finden würde.

Ein weiteres Beispiel: Die einzige romanische Tageszeitung La Quotidiana ist von der Einstellung bedroht – das private Medienhaus Somedia will das Defizit nicht mehr tragen. Lia Rumantscha musste Bund und Kanton zusammentrommeln, um über eine allfällige Weiterführung der Zeitung zu sprechen.

Auch der Europarat bemängelt eher praktische Probleme denn fehlendes finanzielles Engagement der Schweiz: Im sechsten Bericht ermahnt er die Schweiz, dass der Fremdsprachenunterricht an den Schulen nicht den Romanisch-Unterricht verdrängen soll. Er empfiehlt zudem Massnahmen, damit Gemeindefusionen im Kanton Graubünden nicht den Gebrauch des Rätoromanischen behindern.

Rechtlicher Schutz nützt wenig

Theorie und Praxis – das ist hier also das Problem. Der Rätoromane Corsin Bisaz, der unter anderem zu rechtlichen Fragen rund um Rätoromanisch forscht, sieht das ähnlich.

Er gibt zu bedenken, dass im traditionellen rätoromanischen Gebiet die wirtschaftliche Lage schwierig ist und entsprechend viele Menschen wegziehen – und mit ihnen die Sprache. "Ein rechtlicher Sprachenschutz kann diese Rahmenbedingungen kaum ändern."

Bisaz bemängelt auch die fehlende Durchsetzung des Bündner Sprachengesetzes, das die rätoromanische Sprache schützen und fördern sollte: "In den Gemeinden findet man häufig zu wenig Rätoromanisch sprechende Kandidierende, deshalb besetzt man öffentliche Ämter mit Deutschschweizern."

Daher bleibe das Sprachengesetz toter Buchstabe. Zudem sichere das heutige Recht Rätoromanen ausserhalb des traditionellen Sprachgebiets keine Ausbildung in ihrer Muttersprache zu, was angesichts der grossen rätoromanischen "Diaspora" ein Schwachpunkt sei.

Dennoch steht die Schweiz laut Bisaz im Vergleich zu anderen Ländern nicht unbedingt schlecht da. "In anderen Ländern haben Sprachminderheiten in der Vergangenheit stark gelitten", sagt er. "Deshalb wurde in diesen Ländern inzwischen ein guter Rechtsschutz eingeführt."

In der Schweiz sei das gewissermassen gar nicht nötig gewesen, denn die rätoromanische Minderheit sei sehr anerkannt und beliebt. "Als Rätoromane wird man bei Stellenausschreibungen des Bundes bevorzugt", erzählt Bisaz.

Insofern könne man fast schon von "positiver Diskriminierung" sprechen. Und: "Hier gibt es keine Mehrheitstyrannei in der direkten Demokratie, das Rätoromanische wurde durch Volksentscheide mehrmals gestärkt!"

Mit Volksinitiativen Sprachen retten

Die stark entwickelten Volksrechte sind eine Stärke der Schweiz und unterscheiden sie stark von der Europäischen Union. Ein Beispiel: Eine Europäische Bürgerinitiative sah ein Bündel an Massnahmen zur Förderung und zum Schutz der Regional- und Minderheitensprachen vor.

Doch die Europäische Kommission lehnte die Initiative 2013 ab, mit der Begründung, die vorgeschlagene Initiative liege "offensichtlich ausserhalb des Zuständigkeitsbereichs der Kommission".

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) sah dies anders und erklärte den Entscheid der Kommission im Februar 2017 für rechtswidrig. Daraufhin hat die Kommission die Initiative doch noch registriert.

Ein solches Hin und Her wäre in der Schweiz undenkbar. Kommen genügend Unterschriften zusammen, wird eine Volksinitiative in der Regel ohne Wenn und Aber der Stimmbevölkerung zur Abstimmung vorgelegt. Seit 1893 wurden in der Schweiz gerade mal vier Initiativen für ungültig erklärt.

Was würden Sie an Stelle der Schweiz für den Erhalt des Rätoromanischen tun? Diskutieren Sie mit uns in den Kommentaren!  © swissinfo.ch

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