Das Coming-out des ehemaligen Formel-1-Piloten Ralf Schumacher gehört zu den grossen Gesprächsthemen des Sommers. Zu denjenigen, die das eigentlich nicht an die grosse Glocke hängen wollen, gehört Schumacher selbst. Ist das eine neue Normalität?

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2024 scheint es eine sehr widersprüchliche Situation hierzulande zu geben: Einerseits gibt es viel Liberalität, offen homosexuelle Promis und Politiker, seit 2017 können gleichgeschlechtliche Paare auch heiraten. Andererseits wird mehr Hass und Intoleranz verzeichnet.

Und auch wenn die Olympischen Spiele derzeit eine Menge Queerness bieten, mit Superstars wie dem schwulen britischen Wasserspringer Tom Daley, wird in Deutschland immer wieder thematisiert, dass im Fussball noch immer ein Befreiungsschlag fehle - mit dem Coming-out aktiver Spieler zum Beispiel.

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Der Wunsch, "normal leben zu können"

Auf die Frage, ob er eine Botschaft habe, sagte Schumacher in einem Sky-Podcast: "Es geht hier rein egoistisch um Etienne und mich. Dass das auch klar ist und eindeutig ist, wer der Partner an meiner Seite ist, um eben auch normal leben zu können."

Diese Erklärung reiht sich ein in eine Tradition der Diskretion der ganzen Familie Schumacher, die - nicht zuletzt nach dem Unfall von Ralfs Bruder, Formel-1-Rekordweltmeister Michael Schumacher 2013 - ihr Privatleben abzuschirmen versucht.

Ralf Schumacher war einst mit Cora verheiratet und hat mit ihr Sohn David (22), mittlerweile selbst Rennfahrer. Mitte Juli postete der 49-Jährige ein Bild Arm in Arm mit einem Mann: Das Schönste im Leben sei, wenn man den richtigen Partner an seiner Seite habe, mit dem man alles teilen könne.

Kein "Ich bin schwul, und das ist auch gut so"

Schumachers dezentes Coming-out ist weit entfernt von kämpferischen Worten, wie sie 2001 der spätere Berliner Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) wählte: "Ich bin schwul, und das ist auch gut so." 2024 ist auffällig, dass einige, die die Öffentlichkeit dann "Lesben" oder "Schwule" nennt, eben diese Begriffe kaum selbst nutzen.

Auch von jüngerer Seite gibt es die Bestrebung, die alten Kampfbegriffe "schwul" und "lesbisch" zu ersetzen. Oft wird inklusiver - aber auch ungefährer - davon gesprochen, "queer" zu sein.

Was ist gemeint mit "queer"?

  • "Queer" wird als Sammelbegriff für alle Identitäten genutzt, die nicht unter (die einst im Gegensatz zur Homosexualität "erfundene") Heterosexualität fallen. Dazu zählen dann auch Menschen, die trans sind oder sich als nicht-binär sehen (weder Mann noch Frau).

Das Verständnis von sich, abseits einer heteronormativen Welt zu stehen, kann auch zu einer Solidarisierung mit anderen marginalisierten Gruppen führen. So gibt und gab es etwa in Berlin und anderen Städten wie New York Demos unter dem Motto "Queers for Palestine".

Da es dabei aber schon öfter an Distanzierung von der terroristischen Hamas und deren eliminatorischem Antisemitismus fehlte, gibt es in der LGBTIQ-Szene einigen Unfrieden.

Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu sagte polemisch in seiner Rede vor dem Kongress in Washington, "Gays for Palestine", das sei so, als demonstrierten Hühner für KFC (den Fastfood-Riesen Kentucky Fried Chicken).

CSD-Verein schlägt Alarm: Lage komplett gedreht

Auch jenseits des Nahost-Konflikts ist die queere Szene - wie wohl die gesamte Gesellschaft - polarisiert, ob man sich laut zusammentut und mit anderen Gruppen solidarisiert. Es ist ein Diskurs darüber, ob und wie man differenziert.

"Schallte uns noch vor kurzem die Frage entgehen ,Was wollt ihr denn noch?', so hat sich die Lage in diesem Jahr scheinbar komplett gedreht", schreibt etwa der Verein CSD Deutschland. Überall trauten sich Menschen wieder, andere offen und direkt mit Gewalt zu bedrohen.

Schon für 2023 meldeten auch Innenministerium und Bundeskriminalamt (BKA) gestiegene Hasskriminalität gegen queere Menschen, also etwa Angriffe auf Lesben, Schwule, Bisexuelle, Trans- und Intergeschlechtliche.

Gleichzeitig gibt es laut CSD Verein so viel Sichtbarkeit wie nie zuvor - 2024 wurde eine Rekordzahl von Prides (Christopher-Street-Day-Demos) organisiert, auch in vielen kleineren Städten.

"Ich bin nicht queer, sondern ich bin mit einer Frau verheiratet"

Und es gibt - auch von gleichgeschlechtlich Liebenden - eine Distanzierung vom Engagement unter dem Label "Queer". Abgelehnt wird dann eine Agenda, die aus dem persönlichen Begehren die Zugehörigkeit zu einer Community ableitet und Solidarität mit anderen Gruppen wie etwa Transmenschen oder Transgender fordert (Personen, die sich dem Geschlecht, das ihnen bei Geburt zugeschrieben wurde, nicht zugehörig fühlen).

Prominentes Beispiel ist etwa die Politikerin Alice Weidel. "Ich bin nicht queer, sondern ich bin mit einer Frau verheiratet, die ich seit 20 Jahren kenne", sagte die Co-Bundesvorsitzende der AfD im Sommer 2023 in einem ARD-Format. "Wir haben zwei gemeinsame Kinder. Ich fühle mich nicht diskriminiert - warum auch?" Sie fühle sich eher vor den Karren gespannt von einer "bescheuerten Genderpolitik".

Der frühere Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) sagte letztes Jahr beim Portal "Nius": "Ich bin nicht queer, ich bin schwul." Er sei ja nicht morgens wach geworden und habe sich gesagt: "Ich will jetzt schwul sein". "Ich bin's einfach. Und deswegen kann ich mit diesem "Ich definiere mich jetzt mal als dies oder jenes" - so als allgemeiner Ansatz des Denkens - wenig anfangen." (dpa)

Transidentität: Jonas' langer Weg vom Coming-out bis zur OP

Vor fünf Jahren hat Jonas sich als trans geoutet, seit über einem Jahr nimmt er Testosteron und die Mastektomie, die Operation zur Angleichung an die männliche Brust, steht ihm kurz bevor. Jonas wurde bei seiner Geburt dem weiblichen Geschlecht zugeordnet, doch so fühlt er sich nicht.
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