Auch der zweite Teil von James Camerons "Avatar" zieht die Zuschauerinnen und Zuschauer in seinen Bann. Nach dem Kinobesuch berichten einige aber von einem regelrechten Blues. Jürgen Grimm, Professor für Kommunikationswissenschaft an der Universität Wien, zeigt Wege, mit dem Post-Avatar-Depression-Syndrom umzugehen.

Ein Interview


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Haben Sie sich schon "Avatar: The Way of Water" angesehen?

Jürgen Grimm: Ich habe ihn schon gesehen und bin, wie vom ersten, geflasht. "Avatar" ist etwas ganz Besonderes, sowohl von der Geschichte her, als auch vor allen Dingen natürlich von der cineastischen Umsetzung. Das ist also schon immersiv hoch zehn.

Manche berichten, dass sie sich nach dem Film melancholisch fühlen. Dafür gibt es sogar einen Ausdruck, der aber noch nicht wissenschaftlich anerkannt ist: das Post-Avatar-Depression-Syndrom. Was genau versteht man darunter?

Das ist keine medizinisch abgesicherte Bezeichnung, sondern ad hoc nach dem ersten "Avatar"-Film gebildet worden. Es beschreibt, dass Menschen nach dem Anschauen des Films so etwas wie einen depressiven Blues erleben. Aus meiner Sicht ist das auch nicht überraschend.

Bei "Avatar" handelt es sich um eine Dystopie, in die eine Utopie eingebaut ist. Im Grunde wird mit Pandora eine perfekte Welt gezeichnet, in der alle Wesen harmonisch im Einklang leben, bis diese Idylle durch Kolonisatoren brutal beendet wird. Eine Situation, die man sich nicht unbedingt wünscht. Es gibt allerdings auch romantische Elemente, die sehr wohl positive Aspekte umfassen. Aber insgesamt wird eine extrem bedrohliche Situation vermittelt. Und dann sind auch noch Menschen diejenigen, die "die Bösen" sind und die gute Welt bedrohen.

Eintauchen in eine Welt, "die einen sehr traurig macht"

Was macht das mit einem, wenn man das Kino verlässt?

"Avatar" ist eine multifaktorielle Erfahrung. Die kann man nicht auf einen Aspekt reduzieren. Für eine gewisse Zeit taucht man in eine Welt ein, die einen sehr traurig macht. Der Regisseur James Cameron hat ein Händchen dafür. Bei "Titanic" hat man schon damals erleben können, dass die Leute scharenweise mit Taschentüchern aus dem Film kommen. Das Schiff ist untergegangen, aber letztendlich hat die Liebe gesiegt. Das ist so eine Balance, die auch bei "Avatar" eine Rolle spielt. Da findet eine kriegerische Auseinandersetzung statt. Man ist in dieser Welt, die man für bewahrenswert hält, und muss dann wieder in den Alltag eintauchen, von dem man weiss, dass es dort genau die bösen Menschen gibt, die diese Idylle in "Avatar" bedrohen.

Finden Sie es legitim, dass von depressionsartigen Zuständen die Rede ist, nachdem man den Film gesehen hat?

Ich wäre vorsichtig, das Ganze zu pathologisieren. Was wir aus der Forschung wissen: Jeder Film beeinflusst in irgendeiner Weise unser Denken und Fühlen. Ich nenne das Weltbild-Management. Man gleicht etwas, das man im Film von einer "fernen" Welt gesehen hat, mit den eigenen Gegebenheiten ab und kommt zu einer Schlussfolgerung. Das ist im Grunde eine Grenzwanderung zwischen zwei Welten. Man ist eine Zeit lang in der Filmwelt und kommt aus ihr heraus, aber nicht unverändert.

Das ist genau das, was diesen Blues oder dieses depressive Gefühl ausmacht. Generell können wir sagen, dass Filme sowohl depressive als auch aktionistische Effekte erzielen können.

Unsere Welt ist nicht mehr so stabil, wie sie war

Inwiefern das?

Wir müssen bedenken, wie die Welt im Moment ist. Sie ist voller Krisen und Katastrophen. Wir haben Krieg, wir haben den Klimawandel und wir wissen nicht, ob unsere Demokratien wirklich halten. Wir haben also allen Grund, unsere Welt nicht mehr für so stabil zu halten, wie es vielleicht noch vor zehn oder 20 Jahren möglich war. Dann wirken solche Filme umso stärker, die dann einerseits eine romantische Vision entwerfen, aber auf der anderen Seite auch das Gefühl hinterlassen, dass wir in unserer Realität weit davon entfernt sind.

Hat "Avatar" da nochmal eine extremere Wirkung als andere Filme?

Jeder Film beeinflusst einen mehr oder weniger. Wir gehen nie in denselben Fluss hinein und kommen unverändert wieder heraus. Auf der anderen Seite ist "Avatar" wirklich etwas Besonderes. Ich kann das aber nur aus meiner persönlichen Perspektive beurteilen. Da wirkt das Zusammenspiel der 3D-Effekte, aber es ist auch das Szenario als solches. In diese Welt so einzutauchen, hat, glaube ich, kein Film bislang geschafft.

Ich habe mich teilweise an "Pocahontas" erinnert gefühlt durch die Liebesgeschichte zwischen Jake und Neytiri. Es geht um ein Gefühl von artüberschreitender Liebe. Es ist im Grunde auch eine grosse Feier der Liebe, die sich nicht in irgendwelchen rassistischen Konzepten verfängt. Insofern ist dieser Blues, der dann entsteht, diese depressive Stimmung, auch ein Ausdruck dafür, dass wir mit den einfachen Lösungen, sprich im Zweifelsfall gegen Fremde vorgehen zu wollen, uns nicht mehr behaglich fühlen wollen.

Liebe über Grenzen hinweg

Sondern?

Im Gegenteil. Im zweiten Teil gibt es alle möglichen Mischungen, echte Menschen, Halb-Na‘vi und eben solche, die ganz den Na‘vi zugeordnet werden können. Und die bilden trotzdem so etwas wie eine familienähnliche Gemeinschaft. Der Film zeigt neue Formen der Gemeinschaftlichkeit und der Kreativität. Ich glaube, dass der Film eine sehr positive Message beinhaltet und nicht nur ein depressives Weltbild verbreitet.

Welche positive Message wäre das?

Man kann etwas machen – auch in schwierigen Situationen. Meines Erachtens gibt es eine direkte Verbindung zur Last Generation, Fridays for Future und ähnlichem, die auch das Gefühl haben, sozusagen den Untergang abwenden zu müssen. Und genau das steht ja in diesem Film thematisch im Fokus. Das haben kaum Filme, da ist "Avatar" einzigartig. So viele Themen des Films lassen sich auf unsere reale Welt übertragen.

Wir stellen also automatisch Verbindungen zwischen der Welt im Film und der realen Welt her?

Das würde ich schon sagen. Das ist auch Ergebnis unserer Forschung. Es gibt zwei Formen, wie wir uns an Filmen beteiligen. Das eine ist das Immersive, dass wir in die Geschichte hineintreten und von ihr gewissermassen aufgesogen werden. Und das andere ist das Involvement, dass wir Vergleiche herstellen zwischen dem, was wir im Film sehen, und unserer eigenen Welt. Dabei ist es notwendig, dass wir wieder aus dem Film heraustreten und eine Balance herstellen. Das sind zwei verschiedene Formen der Rezeption, die immer stattfinden.

Parallelen zu "Winnetou"

"Avatar" ist nochmal ein spezieller Fall, aber Sie sagten bereits, dass jeder Film etwas mit uns macht. Ist er aber nicht insofern neu, als er realistischer, technisch hochwertiger und deshalb wirksamer ist?

Das gab's zu allen Zeiten. Nehmen wir zum Beispiel den dritten Teil von "Winnetou". Das Sterben des edlen Wilden zu sehen, war erschütternd. Da sind Kinder reihenweise weinend aus dem Kino getragen worden. Bei mir selbst hat dieser Film wochenlang nachgehallt. Es ging auch darum, ähnlich im Übrigen wie bei "Avatar", dass man sich für etwas Gutes engagiert, aber auf verlorenem Posten zu stehen scheint. In dem Fall die Indigenen in Nordamerika. Das ist ein Verlust, der einem eine Existenzkrise beschert. Das ist mit Sicherheit kein neues Phänomen.

Ist das eine Wirkung, die nur Filmen zuzuschreiben ist?

Wir kennen das auch aus der Literatur. Denken Sie an den "Werther"-Effekt. Goethe schrieb diese Geschichte, in der der Protagonist Selbstmord begeht; angeblich gab es dann eine ganze Reihe von Selbsttötungen bei jungen Menschen, die sich mit dieser Figur zu stark identifiziert haben.

Allerdings muss man die Kirche im Dorf lassen. Es ist kein zwangsläufiger Mechanismus, dass alle in eine kollektive Depression verfallen. Aber dass man Trauer verspürt, wenn man aus dieser Welt heraustritt, ist etwas, das die meisten Kinobesucher erleben. Das, was sie dann daraus machen, ist allerdings verschieden. Man könnte auch sagen, es ist eine Art Apokalypse-Naherlebnis, das wir unterschiedlich interpretieren. Das haben wir auch in der Realität und die Frage ist dann, wie wir damit umgehen.

Wie gehen die Menschen denn in der Regel damit um?

Es gibt drei Optionen. Die eine Option ist, dass wir in Depression verfallen und dann mehr oder weniger den Lebensmut verlieren. Die Zweite ist, dass wir uns in eine Endkampf-Haltung begeben und dann sozusagen alle Mittel anwenden wollen, um das Bevorstehende abzuwenden. Nochmal Beispiel Klimabewegung: Es geht um die Frage, ob ich bereit bin, mich zu engagieren. Und das Dritte wäre - das ist eigentlich die Mittelposition -, dass ich sozusagen ein Selbstwachstum initiiere und kreativ werde. Wir wissen aus der Anthropologie, dass Menschen nach einem gigantischen Vulkanausbruch vor 40.000 Jahren von heute auf morgen in Höhlen unterkommen mussten. Dort entstand viel Kunst. Es geht darum, diesen Spagat hinzubekommen zwischen fiktionaler Welt und realer Welt.

Gibt es denn Personengruppen, die eher "anfällig" für depressive Stimmungen nach einem Film sind als andere?

Wer welche Option bevorzugt, das hängt natürlich mit der eigenen Lebensgeschichte zusammen, ob man zum Beispiel eine depressive Grundstimmung schon mitbringt. Wenn ich mich schon im Flüchtlingskontext engagiere oder fürs Klima auf die Strasse gehe, dann werde ich wahrscheinlich eher zur zweiten Variante kommen. Und die Mehrheit, die diesen dritten Weg geht, also sozusagen eine Art Selbstwachstum erlebt, die liegt nach unserer Erkenntnis bei ungefähr zwei Drittel der Rezipienten.

"Auf keinen Fall die negative Weltsicht leugnen"

Was würden Sie Menschen raten, die bereits die Erfahrung gemacht haben, sich nach einem Film depressiv zu fühlen?

Auf keinen Fall die negative Weltsicht leugnen. Die hat ein Fundament in der Realität und das Gefühl ist nicht unrealistisch. Das ist ähnlich wie beim Verlust eines geliebten Menschen. Man muss erst mal die Trauer durchleben, um sich dann von ihr lösen zu können. Das wäre meine Empfehlung. Nicht krampfhaft versuchen, das wegzudrücken, sondern darüber nachzudenken, was das bedeutet und ob es nicht doch Möglichkeiten gibt, in diesem Jammertal eine positive Perspektive zu finden.

Welchen Einfluss haben Filme oder auch Serien allgemein auf unsere Lebensrealität? Spiegelt sich unser Handeln in Filmen wider, die wir mal gesehen haben?

Davon bin ich überzeugt. Ich kann ganz klar sagen, dass ich von Karl May beeinflusst wurde und das hat bis heute Spuren hinterlassen. Und wenn ich mir heute Jugendliche anschaue, die gegen Rassismus oder für Massnahmen gegen den Klimawandel eintreten, habe ich das Gefühl, die sind Brüder und Schwestern im Geiste. Das gilt auch für den Jugendroman "Onkel Toms Hütte", der sich gegen Rassismus stark macht. Man braucht sich die Jugendliteratur oder auch die Filme nur anzuschauen: Es gibt jede Menge Identifikationsmöglichkeiten.

Pippi Langstrumpf zum Beispiel: Die hat natürlich durchaus zur Emanzipation beigetragen. Sie ist ein Mädchen, das seinen eigenen Weg gegangen ist und Stärke gezeigt hat. Figuren aus Büchern oder Filmen nehmen Vorbildfunktionen ein. Ich sehe da eine kulturelle Form der Aufarbeitung. Das geschieht in der Literatur, im Film und im Internet.

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"'Avatar' zeigt auch eine neue Form der Naturverbundenheit"

Nochmals zurück zu "Avatar". Was können wir daraus mitnehmen? Die Welt auf dem Planeten Pandora ist ja wunderschön …

"Avatar" hat nicht nur eine dystopische, sondern auch eine idyllische, fast kitschige Note. Natürlich gibt es diese Avatare und die Na’vi nicht. Aber es gibt eine Vorstellung von dem, wie es sein könnte. Wir nennen das Vorschein-Ästhetik: Man stellt sich eine positive Welt vor, wie sie sein könnte. Patchwork wird in diesem Film gefeiert, das habe ich schon gesagt. Das finde ich grossartig und bewahrenswert.

Und der Film zeigt auch eine neue Form der Naturverbundenheit. Wir leben in einer entfremdeten Welt, die durch Technik und alle möglichen künstlichen Objekte geprägt ist. Und wenn wir dann plötzlich wieder im Film mit Natur konfrontiert werden und einen Weg sehen, uns mit ihr vereinen zu können, ist das etwas, was uns glücklich macht. Dem "Avatar"-Blues geht das Glücklichsein in dieser Welt erstmal voraus.

Was wäre ihre Empfehlung, mit den Emotionen nach "Avatar" umzugehen?

Ich würde sagen: Die glücklichen Momente im Gedächtnis behalten. Die Trauer produktiv nutzen, darüber nachdenken, wo sie herkommt und was man machen kann. Wir müssen vielfältige Initiativen starten. Wir müssen uns neu erfinden, im Grunde als Menschen.

Über den Experten: Jürgen Grimm ist Professor für Kommunikationswissenschaft an der Universität Wien. Zurzeit hat er den Status eines Emeritus und leitet das Projekt "Communication Patterns of Radicalization" (COMRAD). Unter seiner Ägide führt die Forschungsgruppe Empcom am Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft aktuelle Studien zur Coronakrise und dem russischen Krieg in der Ukraine durch. Er ist zudem Autor von "Höhlenkompetenz. Evolutionäre Ressourcen der Pandemiegesellschaft. Ein empirischer Disput".
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