Ihr Kleiderschrank war voll, ihre Wohnung überladen – und doch hatte Jael das Gefühl, immer wieder Neues kaufen zu müssen. Impulskäufe bestimmten ihren Alltag, bis sie beschloss, ihr Konsumverhalten grundlegend zu verändern. Wie ihr die No-Buy-Challenge half, bewusster zu leben - und was eine Psychotherapeutin davon hält.
Macht Konsum glücklich? Definitiv nicht, findet Jael. Zumindest sieht sie das inzwischen so – früher war das noch anders. Sobald sie aber neue Produkte gekauft hatte, waren sie bald nicht mehr interessant: "Ich war nie zufrieden, nie gesättigt, weil immer etwas Neues, Grösseres, Besseres oder Schöneres auf den Markt kam. Es hörte nie auf."
Um Geld zu sparen und nachhaltiger zu leben, macht die 22-Jährige seit November 2024 bei der "No-Buy-Challenge" mit. Dabei schränken Teilnehmerinnen und Teilnehmer ihren Konsum auf das Minimum ein und verzichten auf unnötige Neukäufe. Für viele bedeutet das nicht nur eine finanzielle Entlastung, sondern auch eine Möglichkeit, ihren Konsum kritisch zu hinterfragen.
Jael hat eine seit Sommer 2024 diagnostizierte Kaufsucht. "Das machte das Ganze nochmal extremer", so die 22-Jährige. Mit ihrem Konsumdrang ist sie nicht allein: In Deutschland gelten etwa fünf Prozent der Erwachsenen in Deutschland als gefährdet, eine Kaufsucht zu entwickeln. Das geht aus einer Pressemitteilung der Medizinischen Hochschule Hannover aus dem Jahr 2021 hervor. Dabei verlieren Betroffene beim Einkaufen wiederholt die Kontrolle und erwerben Produkte, die sie nicht brauchen – oft aus schlechter Stimmung oder Langeweile.
Aber auch positive Emotionen können Betroffene zum Kauf unnötiger Produkte bewegen, wie die psychologische Psychotherapeutin Carina Salvenauer weiss. "An schlechten Tagen greifen Betroffene zum Geldbeutel, um ihre Stimmung aufzuheitern. An guten Tagen tun sie es, um sich zu belohnen", sagt sie im Interview mit unserer Redaktion.
Kaufen macht glücklich - bis man die Kontrolle verliert
Einkaufen aktiviere das Belohnungssystem im Gehirn, insbesondere die Ausschüttung des Neurotransmitters Dopamin, das auch als "Botenstoff des Glücks" bekannt ist. "Es motiviert Menschen dazu, belohnende Handlungen zu wiederholen", so Salvenauer. Konsum mache also tatsächlich glücklich. Erst, wenn man die Kontrolle darüber verliere und man ihn mit seinen eigenen Werten nicht mehr vereinbaren könne, mache er unglücklich.
Ist die Kaufsucht stark ausgeprägt, würden Betroffene ständig über mögliche Neukäufe nachdenken und Impulskäufe tätigen, so Salvenauer. Das resultiere oft in Geldproblemen und könne sich so weit steigern, dass sich die Wohnung mit Produkten füllt, die nicht einmal ausgepackt werden. In Extremfällen könne die Sucht aber auch zu einem verringerten Selbstwertgefühl, zu sozialer Isolation und Depressionen führen.
"Ich hatte zu viele Klamotten, die ich nicht trug, Produkte, die ich nie aufbrauchte, Bücher, die ich nie las."
Durch die Digitalisierung verlagert sich die traditionelle Kaufsucht ins Internet, vor allem weil Online-Shopping schneller vonstattengeht und zeitlich sowie örtlich geringeren Hürden unterliegt. Auch Salvenauer ist überzeugt, dass besonders die sozialen Medien unser Kaufverhalten massiv beeinflussen.
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"Jedes Mal, wenn ich auf Social Media etwas gesehen habe, bin ich losgerannt und habe es mir gekauft, ohne darüber nachzudenken, dass ich das Produkt vielleicht schon in zehn Versionen zu Hause hatte", erzählt auch Jael.
Sie war besonders anfällig für Make-up und Drogerieprodukte. Aber auch Kleidung und Bücher hätten sich in ihrer Wohnung gestapelt. Im November 2024 realisierte sie dann, dass sie etwas daran ändern müsse - auch, weil ihr Geldbeutel darunter litt. "Ich hatte zu viele Klamotten, die ich nicht trug, Produkte, die ich nie aufbrauchte, Bücher, die ich nie las." Jael war von ihrem früheren Konsum frustriert und fühlte sich reizüberflutet in ihrer eigenen Wohnung. Also startete sie die No-Buy-Challenge, die sie zuvor auf TikTok gesehen hatte.
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Bewusster konsumieren – nicht nur für Kaufsüchtige
Doch nicht nur Menschen, die unter Kaufsucht leiden, hinterfragen derzeit ihr Konsumverhalten – auch viele andere stellen sich der No-Buy-Challenge und teilen ihre Erfahrungen auf TikTok. Die Challenge ist eine bewusste Konsumpause, die all jene anspricht, die ihren Umgang mit Geld und Besitz überdenken möchten. Sie sei eine gute Möglichkeit, um eine Veränderung einzuläuten, findet Salvenauer. Und sie habe Potenzial, auch langfristige Veränderungen im Konsumverhalten zu bewirken.
Verzicht und Konsumregulierung stehen zwar im Vordergrund, die genauen Regeln ihrer No-Buy-Challenge legen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer aber selbst fest. Manche erlauben sich kleine Ausnahmen, etwa für Geschenke oder Aktivitäten wie Kino- und Restaurantbesuche, andere gehen radikaler vor und verzichten auch auf diese Ausgaben.
Viele legen ein Ampel-System an. Dabei werden Käufe in drei Kategorien unterteilt:
- Grün sind notwendige Ausgaben, die unvermeidbar sind, wie zum Beispiel die Miete, Lebensmittel oder Medikamente.
- Gelb sind Konsumgüter, die man nicht zwingend braucht, die aber eventuell nützlich sind. Dazu zählen etwa neue Haushaltsgerät bei einem Defekt oder Drogerieartikel, wenn alle anderen aufgebraucht sind.
- Rot sind hingegen Produkte, die absolut tabu sind, wie Impulskäufe, Luxusartikel, Dekorationen oder neue Kleidung.
"Ich denke, vielen tut eine derartige Liste gut, um eine Orientierung und klare Regeln zu haben", findet Salvenauer. "Das wirkt intuitiven und impulsiven Entscheidungen entgegen."
Erst ausmisten, dann aufbrauchen
Jael reguliert ihren Konsum ohne Ampel-System. Sie startete ihre Challenge mit radikalem Ausmisten, verschenkte und verkaufte Kleidung sowie Produkte und schmiss abgelaufene Artikel in den Müll. "Danach habe ich angefangen, alles aufzubrauchen." Neue Drogerieartikel habe sie sich nur gekauft, wenn sie sie wirklich gebraucht habe: "In den letzten Monaten war das einmal eine neue Tagescreme, weil meine leer war. Sonst nichts."
Die Challenge wollte Jael zunächst nur für zwei Monate durchziehen. "Ich wollte ein greifbares Ziel vor Augen haben. Das hat mir sehr geholfen", erzählt sie. Auch Salvenauer rät zu Etappenzielen: "Für immer" sei zu lang und nicht greifbar genug. "Das kann übermässigen Druck aufbauen, dem nur schwierig standgehalten werden kann", so die Psychotherapeutin.
Rückschläge gehören dazu – und können sogar helfen
Jaels Hauptmotivation, die Challenge durchzuhalten: Geld sparen. Aber auch Nachhaltigkeit spielt eine grosse Rolle. Neue Kleidung kauft sie nur noch Second Hand. Auch bei Lebensmitteln greift sie oft auf Produkte zurück, die von Supermärkten bereits aussortiert wurden.
Es habe aber immer wieder Situationen gegeben, in denen ihr der Verzicht schwergefallen sei" "Das war schon bei Kleinigkeiten der Fall, sei es bei einer neuen Handcreme, die gut gerochen hat." Ihre Wohnung leerer und ihren Geldbeutel voller zu sehen, war für sie aber Motivation genug, durchzuhalten. Ausserdem haben ihr die folgenden Punkte geholfen:
- Shopping-Apps von ihrem Smartphone zu löschen.
- Influencerinnen und Influencern auf Social Media zu entfolgen, die sie zum Konsum anstiften könnten.
- Einen Budget-Planer zu führen, in dem sie das ihr zur Verfügung stehende Geld im Voraus aufteilen kann.
Salvenauer rät, sich von Rückschlägen nicht demotivieren zu lassen: "Sie sind normal – und sogar wichtig." Denn daraus könne man mehr über das eigene Verlangen und Konsumgewohnheiten lernen. Betroffene sollten versuchen, sich selbst, ihr Handeln und ihren Konsum aus der Vogelperspektive zu beobachten und sich fragen: "Wieso bin ich in dieser Situation schwach geworden?"
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Merke man aber bereits, dass man kurz vor einem unnötigen Neukauf stehe, rät Salvenauer Betroffenen, sich die negativen Seiten des Konsums vor Augen zu führen, den Kauf gründlich zu überdenken und – wenn gar nichts mehr hilft – die Situation zu verlassen. "Das ist meist am effektivsten", so Salvenauer.
"Ich fühle mich freier" – Wie Verzicht zu mehr Lebensqualität führte
Zunächst hatte Jael sich vorgenommen, die Challenge bis Dezember 2024 durchzuziehen. Doch sie hält noch immer daran fest: "Ich werde auf jeden Fall dranbleiben." Seit einigen Monaten geht sie ausserdem zur Therapie, um ihre Kaufsucht psychologisch behandeln zu lassen.
Wenn Jael ihren Konsum von vor ein paar Monaten mit ihrem jetzigen vergleicht, seien das zwei Welten: "Früher habe ich oft Dinge gekauft, die bei Social Media im Trend waren und habe gar nicht darauf gehört, ob es mir persönlich wirklich gefällt. Mein Kleidungs- und Einrichtungsstil haben sich seither verändert." Zum Vorher zurückzukehren, kann sie sich nicht vorstellen.
"Ich bin glücklicher, seit ich die Challenge angefangen habe", so Jael. Sie gehe bewusster durch die Stadt, gehe generell bewusster durchs Leben: "Ich fühle mich freier, weil ich mehr Geld zur Verfügung habe. Ich fühle mich zu Hause wohler, weil ich nicht mehr so viele Dinge besitze. Und ich fühle mich besser, weil ich nachhaltiger lebe."
Über die Gesprächspartnerinnen
- Jael ist 22 Jahre alt und lebt in Hannover. Sie hat eine seit Sommer 2024 diagnostizierte Kaufsucht und krempelte ihr Leben mit der No-Buy-Challenge um.
- Carina Salvenauer (geb. Scherer) M.Sc. ist psychologische Psychotherapeutin. Sie absolvierte ihr Bachelor- und Masterstudium der Psychologie an der Leopold-Franzens Universität Innsbruck, bevor sie die Ausbildung zur psychologischen Psychotherapeutin am Centrum für Integrative Psychotherapie in München machte. Ihre Approbation als psychologische Psychotherapeutin für Erwachsene mit der Fachkunde in Verhaltenstherapie erhielt sie 2021. Seitdem geht sie psychotherapeutischen und suchttherapeutischen Tätigkeiten in ihrer eigenen Privatpraxis in München nach.
Verwendete Quellen
- TikTok von Jael
- Medizinische Hochschule Hannover: Kaufsucht: Auf dem Weg zur anerkannten Krankheit
- aok.de: Exzessives Shoppen: Wenn Konsum zur Sucht wird
- thieme-connect.com: Kaufsucht im Internet
- tiktok.com: No-Buy-Challenge
- bundestag.de: Zur Entstehung und Verbreitung der "Kaufsucht" in Deutschland
- emerald.com: The influence of Internet shopping and use of credit cards on gender differences in compulsive buying
- link.springer.com: Kaufsucht als nichtstoffgebundene Abhängigkeit entwickelter Konsumgesellschaften
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