Seit 30 Jahren suchen Astronomen nach dunkler Materie, die niemand finden kann. Experten zweier verschiedener Schweizer Institute haben kürzlich Arbeiten veröffentlicht, die das Standardmodell des Kosmos und dessen Eigenschaften in Frage stellen.
Mehr als ein Jahrzehnt lang ist André Maeder bereits im Ruhestand. Doch das konnte seine Jagd auf kosmologische Rätsel nicht bremsen. Maeder war Professor an der Abteilung für Astronomie der Universität Genf, wo er sich mit der Physik der Sterne beschäftigte.
Tatsächlich hat er heute mehr Zeit, um sich mit Fragen zu beschäftigen, die ihn seit dem Anfang seiner Karriere beschäftigten: Fragen wie: "Brauchen wir wirklich dunkle Materie, um das Universum zu erklären?"
"Ich arbeitete als junger Assistent einige Jahre daran. Aber damals lag das nicht auf der Forschungslinie des Observatoriums", sagt Maeder. Kürzlich sprach "swissinfo.ch" mit ihm an jenem Observatorium, das zwischen Feldern und Wäldern in der Genfer Landschaft einige Kilometer ausserhalb der Stadt liegt.
40 Jahre nach Maeders Assistenzzeit hat sich die Wissenschaft entwickelt – und sie schreitet weiter. Im November 2017 publizierte Maeder eine Arbeit, die in der Wissenschaft Aufsehen erregte: Seine Forschung stellte die lange gehegte Annahme in Frage, dass die grosse Mehrheit unseres Universums aus dunkler Materie und ihrer entsprechenden Kraft, der dunklen Energie, besteht.
Weg mit der dunklen Materie
Maeders Hypothese geht von einem Konzept aus, das als "Skaleninvarianz des leeren Raums" bezeichnet wird. Diese geht davon aus, dass sich die Eigenschaften des leeren Raums als Reaktion auf eine Expansion oder Kontraktion nicht ändern – das heisst, dass sie unveränderlich gegenüber der Grösse des Raums wären.
Im Standardmodell der Kosmologie erlaubt die Art und Weise, wie die Eigenschaften des leeren Raums in Einsteins Gravitationsgleichungen berücksichtigt werden, aber keine Skaleninvarianz. Das bedeutet, dass sich die Gleichungen mit einer allgemeinen Erweiterung oder Schrumpfung der Raumzeit ändern würden.
Maeder aber schlägt vor, dass diese Gleichungen skaleninvariant sein sollten. Dies würde die Beifügung einiger neuer mathematischer Begriffe erfordern. "Natürlich bin ich voreingenommen, aber ich denke, das ist eine recht vernünftige Annahme: Wenn da nichts ist, sollte auch keine Veränderung festzustellen sein, wenn der Raum sich erweitert oder schrumpft."
Mit seinem überarbeiteten, skaleninvarianten Modell führte Maeder kosmologische Tests durch, die zeigen, dass bestimmte galaktische Phänomene auch ohne dunkle Materie erklärt werden können.
So konnte zum Beispiel beobachtet werden, dass sich Galaxien, die Teil eines grösseren Galaxienhaufens sind, schneller bewegen, als aufgrund ihrer sichtbaren Masse vorhergesagt wurde. Gegenwärtig wird als Grund für diese hohen Geschwindigkeiten die unsichtbare dunkle Materie vorgeschlagen.
"Während etwa 30 Jahren war das die allgemeine Meinung: dass ein grosser Teil unseres Universums aus dunkler Materie besteht, die sechs- bis achtmal häufiger als sichtbare Materie vorkommen soll", so Maeder.
"Im Kontext meiner Theorie aber braucht es keine dunkle Materie – sie lässt sich allein mit dem zusätzlichen mathematischen Begriff in den Bewegungsgleichungen erklären."
Kritische Stimmen
Trotz der Publikation in The Astrophysical Journal, einem der Top-Magazine dieses Fachbereichs, stiess Maeders Theorie in der Wissenschaft auf Widerstand. Darunter waren Argumente zu lesen, seine Arbeit enthalte "keine konsistente Theorie", und seine Berechnungen wurden kritisiert.
Maeder aber lässt sich davon nicht abschrecken. Er plant, seine Theorie weiteren Tests zu unterziehen. Zum Beispiel, um zu sehen, ob sein Modell kosmologische Beobachtungen von Helium erklären kann, das durch Kernreaktionen während des Urknalls zurückgelassen wurde.
Seltsame Ordnung
Die aktuelle Formulierung des Standardmodells der Kosmologie – und besonders die Rolle der dunklen Materie – kamen im Februar 2018 erneut ins Kreuzfeuer, als Oliver Müller von der Universität Basel mit einem internationalen Forschungsteam in der Zeitschrift Science ein weiteres Papier veröffentlichte, das den Status Quo in Frage stellt.
Müller erstellte im Rahmen seiner Doktorarbeit eine Übersicht über kleine Satellitengalaxien – so genannte Zwerggalaxien –, die in etwa 13 Millionen Lichtjahren jenseits unserer eigenen Milchstrasse eine grössere Galaxie namens Centaurus A umkreisen.
Doch er und seine Kollegen beobachteten etwas Seltsames: Die Zwerggalaxien schienen sich in der gleichen Ebene und Richtung zu bewegen, ähnlich wie die Planeten in unserem Sonnensystem die Sonne umkreisen.
Zuerst mag das nicht erstaunlich sein, aber es gibt einen Haken: Das Standardmodell in seiner heutigen Form sagt nämlich voraus, dass sich Satellitengalaxien aufgrund der Auswirkungen der dunklen Materie zufällig und ungeordnet um Centaurus A bewegen sollten – "wie Bienen um einen Bienenstock".
Nachdem sie ihre Beobachtungen mit öffentlichen Datensätzen kosmologischer Simulationen verglichen hatten, fanden Müller und sein Team heraus, dass ihre Beobachtungen der Zwerggalaxien von Centaurus A unter dem Standardmodell nur zu 0,5% der Zeit vorhergesagt würden.
Zudem konnten solche Bewegungen und Ausrichtungen bereits früher beobachtet werden – in der Milchstrasse und in der Andromeda-Galaxie. Somit weisen drei Galaxie-Systeme dieses unerwartete Bewegungsmuster auf. Die Chancen, dass so etwas unter dem Standardmodell vorkomme, stehen laut Müller bei eins zu 200 Millionen.
"Ich bin ein Beobachter. Mich interessiert vor allem der Aspekt des Universums, also kann ich nicht abschliessend entscheiden, ob [das Standardmodell] korrekt ist oder nicht. Das ist eine Aufgabe für Theoretiker. Aber ich denke, es wird zu einem Paradigmenwechsel kommen", so Müller.
Auch wenn er gegenwärtig mit dem Abschluss seiner Doktorarbeit beschäftigt ist und diese im August verteidigen wird, plant Müller, die Science-Studie weiterzuführen. Er will mehr Zwerggalaxien der Centaurus-A-Gruppe beobachten, um herauszufinden, ob sie die gleichen Bewegungs- und Ausrichtungsmuster haben.
"Bisher folgen 14 von 16 Zwerggalaxien einem gemeinsamen Bewegungsmuster. Es ist höchst unwahrscheinlich, dass dies ein Zufall ist. Aber es könnte natürlich ein statistischer Zufall sein. Wenn wir aber 27 von 30 Zwerggalaxien haben, die sich immer noch gleich bewegen, dann wissen wir: Das ist physikalisch."
Und im wahren Geist der wissenschaftlichen Forschung fügt er hinzu: "Oder wir können unsere Beobachtungen nicht bestätigen – das wäre natürlich auch interessant." © swissinfo.ch
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