Ein 45-Jähriger klagte über Kopfschmerzen, dann stellten Ärzte einen Hirntumor fest. Bei einem komplexen Eingriff wollte der Hobbyspieler sein Schachwissen nicht verlieren – und die Ärzte fanden eine Lösung.

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Ärzte im spanischen Barcelona haben einem Patienten in einer aufsehenerregenden Operation einen Hirntumor entfernt. Weil der Mann sein Schachwissen durch die OP nicht verlieren wollte, liessen die Wissenschaftler ihn während des Eingriffs Schachrätsel lösen – offenbar mit Erfolg. Das geht aus Beiträgen im wissenschaftlichen Fachblatt "Cortex" sowie in der US-Zeitschrift "Scientific American" hervor.

Den Berichten zufolge klagte der 45 Jahre alte Patient im März 2023 über Kopfschmerzen. Ärzte im Krankenhaus Bellvitge, das zur Universität Barcelona gehört, stellten einen Hirntumor fest, der in einer komplexen Operation entfernt werden musste. Der Patient, ein Computerprogrammierer und Hobby-Schachspieler, äusserte dazu einen Wunsch: Er wolle sein Schachwissen nicht verlieren. Mit einer Elo-Leistungszahl von 1950 Punkten galt er den Berichten zufolge als guter Spieler.

Andreu Gabarrós, Leiter der Neurochirurgie in dem Krankenhaus, wollte dem Wunsch nachkommen. In der Vergangenheit hatte er schon Patienten Hirntumore entfernt, ohne dass sie ihre Fähigkeiten verloren, bestimmte Musikinstrumente zu spielen. Gabarrós beriet sich mit weiteren Wissenschaftlern.

Patient musste während OP Schachzüge bewerten

Mithilfe einer Magnetresonanztomographie kartierten sie das Gehirn des Patienten und stellten so fest, welche Hirnareale der 45-Jährige für sein Schachspiel benötigte. "Ich habe angefangen, in der Literatur zu recherchieren, um herauszufinden, wie man Schach in kognitive Prozesse unterteilen kann, die während der Operation leichter zu bewerten sind", sagte Victor Cepero-Escribano, einer der beteiligten Wissenschaftler, laut "Scientific American".

Während der Operation sägten Ärzte dem Patienten unter lokaler Betäubung einen Teil der Schädeldecke auf und berührten mit einer unter Strom stehenden Elektrode die Oberfläche der Grosshirnrinde. Währenddessen musste der Patient Fragen beantworten und Schachzüge bewerten. Als die Forscher mit der Elektrode eine spezielle Region der Grosshirnrinde, den Gyrus supramarginalis, berührten, konnte der Patient den Berichten zufolge nicht mehr bewerten, ob ein ihm gezeigter Schachzug einer Partie richtig war oder nicht.

Durch dieses Verfahren der sogenannten elektrischen Simulationskartierung (ESM) hätten die Wissenschaftler verstanden, dass sie diesen Bereich des Gehirns bei der Operation nicht in Mitleidenschaft ziehen dürfen. "Das ist das Hauptziel des Verfahrens: diesen Punkt zu erkennen und zu meiden", sagte Xim Cerda-Company, einer der Mitautoren der Studie.

Die Operation gelang, der Tumor wurde offenbar komplett entfernt. Und vier Monate nach dem Eingriff habe der Patient wieder Schach spielen können, heisst es in den Berichten. Bei einigen komplexeren Schachaufgaben habe er nur etwas langsamer reagiert.

Faszination und Kritik aus Expertenkreisen

Fraglich ist, wie sich die Erkenntnisse aus der Operation auf weitere Eingriffe anwenden lassen. Experten zeigen sich laut "Scientific American" aber fasziniert. Adrià Rofes, Assistenzprofessor für Neurolinguistik an der Universität Groningen in den Niederlanden, sagte, die Studie liefere neue Erkenntnisse. Sie gehe über einige bekannte Ansätze hinaus, bei denen Chirurgenteams den Patienten während der OPs Aufgaben gestellt hätten – zum Beispiel Geige spielen oder Lieder singen.

Emmanuel Mandonnet, Professor für Neurochirurgie an der Universität von Paris Cité in Frankreich, kritisierte, dass man mit einem solchen Ansatz verschiedene Herangehensweisen entwickeln müsse. "Jemand wird darum bitten, weiterhin stricken zu können, ein anderer darum, Geige spielen zu können, und so weiter", sagte Mandonnet: "Das ist also nicht die beste Strategie, denn man muss für Aufgaben wie Schach Protokolle erfinden, die für jeden Patienten spezifisch sind."

Die katalanische Zeitung "La Vanguardia" schreibt derweil, der Patient habe seine Schachfähigkeiten mittlerweile sogar verbessert.  © DER SPIEGEL

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