- Wie gehen andere Nationen mit Corona um? Der Blick über die Grenzen erstaunt immer wieder.
- Spanien etwa - das Land mit einem der härtesten Lockdowns - verhängt kaum noch Massnahmen.
Die erste Herbstwelle der Corona-Infektionen scheint nach den aktuellen Infektionszahlen des Robert-Koch-Instituts gerade wieder abzuflachen. Die Sieben-Tage-Inzidenz sank von 887 Mitte Oktober auf 464 am 28. Oktober. Masken sieht man in Supermärkten und Geschäften immer weniger, andere Themen als Corona bestimmen die Nachrichten. Wie sieht die Lage in anderen Ländern aus? Das haben wir unsere Korrespondentinnen und Korrespondenten gefragt. Ein Stimmungsbild aus so unterschiedlichen Ländern wie den USA, Island, Südafrika und Australien.
Schweiz: Empfehlungen und Appell an die Eigenverantwortung
Seit April sind in der Schweiz die Corona-Massnahmen aufgehoben. Mit Ausnahme einiger Spitäler und Pflegheime, in denen weiterhin eine Maskenpflicht gilt, lebte die Schweizer Bevölkerung einen heissen Sommer lang so, als sei die Pandemie vorbei. Doch in den letzten Wochen ist die Zahl der Infektionen wieder gestiegen. Einige wenige Menschen tragen im öffentlichen Raum erneut eine Schutzmaske.
Dies tun sie ganz im Sinne der Behörden: Wie zu Beginn der Pandemie appellieren diese nämlich an die Eigenverantwortung. Gerade haben die Gesundheitsdirektoren der Kantone (vergleichbar mit den Gesundheitsministern der Bundesländer in Deutschland) beschlossen, nichts zu beschliessen: Sie verzichten derzeit darauf, Corona-Massnahmen zu empfehlen, geschweige denn solche zu erlassen. Begründung: Die Fallzahlen würden derzeit stagnieren und die Spitäler seien nicht überlastet.
So ist jede und jeder aufgerufen, sich selbst zu schützen, wenn er denn will: Seit zwei Wochen ist die zweite Booster-Impfung für alle ab 16 Jahren kostenlos erhältlich. Und auch die Impfdosen gegen die Grippe stehen bereit. Virologinnen und Virologen befürchten, dass COVID-19 und die Grippe diesen Winter gleichzeitig zuschlagen und zu sehr vielen Krankheitsfällen führen könnten. So erwartet man in der Schweiz die kalte Jahreszeit mit einer gespannten Ruhe. (Von Markus Hofmann, Zürich)
Spanien: Das neue Laissez-faire des Lockdown-Meisters
Spanien hatte sich zu Beginn der Pandemie einen der europaweit härtesten Lockdowns auferlegt. Sieben Wochen durften die Spanierinnen und Spanier das Haus nur zum Arbeiten oder Einkaufen verlassen, danach galt auch draussen eine Maskenpflicht. Inzwischen sind alle Massnahmen aufgehoben. Nur noch im öffentlichen Nahverkehr ist Mund-Nasen-Schutz Pflicht.
Dabei steigen auch in Spanien die Inzidenzen leicht: 195 neue COVID-19-Infektionen pro 100.000 Einwohner in den letzten 14 Tagen meldete das Gesundheitsministerium zuletzt. Allerdings ist die Aussagekraft dieser Zahl mit Blick auf die Entwicklung in anderen Ländern gering. Seit Ende März veröffentlicht Spanien lediglich die Infektionen der Über-60-Jährigen. Um das während der Omikron-Welle mit der Diagnose Tausender leichter Erkrankungen an seine Belastungsgrenze gelangte Gesundheitssystem zu schützen, entschloss man sich damals zu einem radikalen Strategiewechsel. Kontaktverfolgung und generelle Quarantänepflicht bei Positivmeldungen wurden aufgehoben. Ärztlich testen lassen muss sich bei entsprechenden Symptomen nur, wer beruflich mit Risikogruppen zu tun hat, einer angehört – oder älter als 60 Jahre ist.
Seitdem überwacht das Gesundheitsministerium die COVID-19-Pandemie ähnlich wie die jährliche Grippe-Epidemie und schätzt die Lage anhand der von ausgewählten Gesundheitszentren übermittelten Daten mit einer Corona-Ampel ein. Entscheidend ist dabei neben den Fallzahlen der Über-60-Jährigen vor allem die Situation in den Krankenhäusern. Sind beispielsweise mehr als zehn Prozent der Intensivbetten mit COVID-19-Patienten belegt, gilt das als ein Indikator für ein hohes Risiko. Das trifft derzeit nur auf die Provinzen Soria und Zamora zu. Eine engmaschigere Überwachung, verschärfte Hygienemassnahmen oder eingeschränkte Öffnungszeiten können nur angeordnet werden, wenn mehrere Indikatoren zusammentreffen.
Mit Blick auf die achte Welle vertrauen die Behörden auf den Impfschutz. Knapp 86 Prozent der über fünfjährigen Spanierinnen und Spanier sind vollständig geimpft, derzeit läuft die Kampagne für die vierte Auffrischungsdosis bei Senioren und die Immunisierung von Kleinkindern. Die Zahl der Impfskeptikerinnen und -skeptiker ist in Spanien traditionell gering. (Von Julia Macher, Barcelona)
Tunesien: Schnelltests sind zu teuer, Long COVID kaum bekannt
Auch in Tunesien macht Corona keine Schlagzeilen mehr. Offiziell liegen die Fallzahlen bei rund hundert Personen pro Woche – auf zwölf Millionen Einwohner, wohlgemerkt. Die Testpositivrate liegt stabil bei rund drei Prozent, Krankenhauseinweisungen und Todesfälle im niedrigen einstelligen Bereich. Wie hoch die Dunkelziffer ist? Welche Varianten kursieren? Da muss man sich leider weitestgehend auf Anekdotenwissen stützen. Das legt nahe, dass die realen Zahlen deutlich höher sind, als die veröffentlichten. Schon vor Monaten hatte ein Mitglied der COVID-Kommission des Gesundheitsministeriums gesagt, dass die Tunesierinnen und Tunesier im Durchschnitt wohl alle zwei Mal mit dem Virus in Kontakt gekommen sind. Zwei Omikron-Wellen später dürfte der Wert deutlich höher sein.
Kein Wunder eigentlich, denn die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung verhält sich, als sei die Pandemie vorbei. Wirtschaftskrise, Versorgungsengpässe und Politik dominieren die öffentliche Meinung. Boostern lässt sich kaum noch jemand und auch die im September zum Schulstart erst zugelassenen Impfungen für Kinder ab fünf Jahren sorgten nicht für einen Run auf die Impfzentren. Selbsttests sind nach wie vor nicht verfügbar, so dass die wenigsten Menschen bei leichten Symptomen einen Test machen. Der Schnelltest kostet in der Apotheke 20 Dinar, umgerechnet rund sechs Euro, ungefähr ein Tagesverdienst für Mindestlohnverdiener, ein PCR-Test mehr als ein Drittel eines Monatsverdiensts. "Sie tragen noch Maske?" wurde ich neulich erstaunt gefragt – in einer Arztpraxis.
Unterdessen häufen sich Erzählungen von jenen, die zwei, drei, vier oder mehr Infektionen hinter sich haben. Die seit Monaten nicht mehr auf den Damm kommen, erschöpft sind, immer noch nichts riechen, jeden kleinsten Infekt mitnehmen – und die sich wundern. Der Ausdruck Long COVID fällt in diesen Diskussionen allerdings kaum, denn die wenigsten haben ihn je gehört. Denn weder die tunesischen Medien noch die Behörden haben über mögliche Spätfolgen der Infektionen aufgeklärt. (Von Sarah Mersch, Tunis)
Südafrika: Akute Existenznöte wichtiger als Corona
Corona ist vorbei. Das denken offenbar viele Menschen in Südafrika, jedenfalls sind Maskenträgerinnen und Maskenträger in Supermärkten, Schulen oder Minibus-Taxis deutlich in der Minderheit. Die Nachfrage nach Impfstoffen ist gesunken, an neue Varianten angepasste Booster sind noch nicht zugelassen. Rund die Hälfte der Erwachsenen ist geimpft, testen lassen sich nur noch wenige.
Für die meisten Bürgerinnen und Bürger wiegen andere Probleme schwerer: Tägliche Stromausfälle, Preissteigerungen, Arbeitslosigkeit – sprich akute Existenznöte. Über die Verschärfung der Wirtschaftskrise wird wesentlich mehr diskutiert als über Long COVID. Das ist in der Öffentlichkeit kaum ein Thema, obwohl Medizinerinnen und Mediziner warnen, das Gesundheitssystem sei auf die Behandlung dieser neuen chronisch Kranken nicht vorbereitet. Es ist schon jetzt überlastet und Krankenhäuser ebenfalls von den Stromausfällen betroffen.
Eine wachsende Zahl von COVID-Patientinnen und -Patienten, die stationär behandelt werden müssen, verzeichnet das Gesundheitsministerium derzeit nicht. Auch die Fallzahlen bewegen sich weiter auf niedrigem Niveau. Als Frühwarnsystem für mögliche neue Corona-Wellen gelten die routinemässigen Abwassertests des medizinischen Forschungsrats, South African Medical Research Council. Vor allem in zwei Provinzen Südafrikas, Limpopo und Eastern Cape, haben sie zuletzt steigende Konzentrationen von SARS-Cov-2 RNA nachgewiesen. Hinweise auf neue Varianten gibt es laut Gesundheitsministerium nicht, die Lage sei unter Kontrolle, werde aber genau beobachtet. Denn für Regierung und Forscher ist Corona noch nicht vorbei. (Von Leonie March, Südafrika)
USA: Wer die Maskenpflicht fordert, wird bei den Wahlen garantiert abgestraft
Kalifornien beendet am 28. Februar 2023 den COVID-Ausnahmezustand, der seit dem Frühjahr 2020 besteht. Das hat der Gouverneur des bevölkerungsreichsten US-Bundesstaates,
Die Bedrohung durch das Virus bestehe weiter, so Newsom, doch Kalifornien sei inzwischen weitaus besser darauf eingestellt. Aus einer Krise sei ein kontrollierbarer Zustand geworden mit dramatisch wenigeren Hospitalisierungen und Infizierungen. Warum dann noch vier Monate bis zur Aufhebung warten? Um allen betroffenen Institutionen ausreichend Zeit zu geben, sich auf die neue Situation einzustellen, erklärte der Gouverneur.
Doch mindestens genauso wichtig ist die Erfahrung, dass im Winter Infektions- und Hospitalisierungszahlen auch in Kalifornien immer gestiegen sind. Ausserdem stehen viele Feiertage bevor – Halloween, Thanksgiving, Weihnachten, Neujahr – an denen sich traditionell grosse Gruppen in geschlossenen Räumen treffen. Das gilt für die gesamten USA. Hunderttausende werden auch in diesem Jahr wieder auf den Strassen und in Flugzeugen unterwegs zu Verwandten und Bekannten sein. Umfragen ergaben, dass sie sich dabei mehr Sorgen um Inflation sowie hohe Flug- und Benzinpreise machen als um die neusten COVID-Varianten.
Das wiederum bereitet der Biden-Regierung grosse Sorgen. Die ist zunehmend beunruhigt über die Verbreitung neuer Coronavirus-Varianten und den Widerwillen der Bevölkerung, sich dagegen impfen zu lassen. Weniger als 4 Prozent hatten sich bis Anfang Oktober die neue Impfung geben lassen und das Weisse Haus hat deshalb eine Booster-Werbekampagne gestartet. Der Präsident selbst hat die Argumentation für Immunisierung dadurch erschwert, dass er vor wenigen Wochen in einem Fernsehinterview erklärte, COVID sei zwar noch ein Problem, aber: "Die Pandemie ist vorbei. Niemand trägt mehr eine Maske. Alle scheinen ziemlich gesund zu sein." Dahinter steckt politisches Kalkül so kurz vor den US-Zwischenwahlen. Die unbeliebte Maskenpflicht in Restaurants, Schulen und anderen öffentlichen Orten wieder einzuführen würde garantiert zu lautstarken Protesten führen. An eine Impfpflicht ist überhaupt nicht mehr zu denken. Wer das derzeit vorschlägt, wird am 08. November garantiert abgestraft. (Von Kerstin Zilm, Los Angeles)
Island: Grippe beschäftigt die Menschen mehr
Während im Rest Europas die Infektionen wieder steigen, ist in Island ein anderes Bild zu beobachten: Seit Anfang September sind nur an zwei Tagen mehr als 50 Neuinfektionen gemeldet worden. Das sah im Sommer noch ganz anders aus. Nach zwei Jahren mit Reisebeschränkungen wegen COVID-19, war der Ansturm auf Island riesig. Noch nie waren so viele Menschen in einem Monat auf Island wie im Juli 2022. Dies zeigte sich auch in den Infektionszahlen: Von Juni bis August konnten meist zwischen 100 und 450 Neuinfektionen verzeichnet werden, weit über der Infektionsrate der ersten Wellen der Epidemie im Jahr 2020. Mit weniger Besuchern im Herbst gehen auch die offiziell dokumentierten Zahlen rapide zurück.
Seit der Beendigung aller Massnahmen und eine drastischen Reduktion der PCR-Tests zu Beginn des Jahres findet COVID-19 im Alltag nicht mehr statt, wenn auch in der ersten Hälfte des Jahres mehr als doppelt so viele Menschen mit dem Vermerk COVID-19 gestorben sind als in den Jahren 2020 und 2021 zusammen. Die weit verbreiteten "Herbstbälle" vieler Unternehmen, Konzerte und andere Grossveranstaltungen finden wieder statt, niemand trägt Masken und eine hartnäckige Grippe, die gerade kursiert, beschäftigt die Menschen gerade mehr, als die 14-Tage Inzidenz von 105 pro 100.000 Einwohnern. Eine Impfkampagne für eine vierte Dosis ist nicht geplant, knapp 50 Prozent der über 60-Jährigen haben sie schon bekommen, alle anderen können sich, wenn gewünscht, im Gesundheitszentrum nun für eine Impfung anmelden. COVID-19 in Island wird nun also so gehandhabt wie eine normale Grippe. (Tina Gotthardt, Reykjavik)
Australien: COVID-Fälle gehen zurück, dafür entflammen Diskussionen
Interessanter als die Zahlen sind in Australien derzeit die Diskussionen. Mit Beginn der wärmeren Jahreszeit sind die Zahlen der COVID-Erkrankungen und COVID-Toten, wenig überraschend, gesunken: Während im Südhalbkugelwinter bis zu 700 Menschen pro Woche an oder mit COVID 19 starben, waren es Mitte Oktober noch 122. In der letzten Hochphase im Juli wurden täglich mehr als 5.500 Menschen mit COVID-19 in Krankenhäusern behandelt, derzeit sind es 1.400. Fast 90 Prozent der Bevölkerung hat zwei Impfungen bekommen, 41 Prozent der über 30-Jährigen sind vier Mal geimpft. In dieser "neuen Phase der Pandemie" hob die Regierung zum 15. Oktober die fünftägige Isolationspflicht für Erkrankte auf, in Flugzeugen müssen keine Masken mehr getragen und positive Schnelltests nicht mehr gemeldet werden.
Dafür beschäftigen sich jetzt Studien damit, welche Auswirkungen die extremen Einschränkungen und Lockdownphasen der Pandemie auf die Australier und Australierinnen hatten und haben. Melbourne erlebte mit über 260 Tagen einen der längsten Lockdowns der Welt. Grenzen zwischen vielen Bundesstaaten waren monatelang dicht, viele Schüler und Schülerinnen sahen mehrere Quartale lang gar keinen Klassenraum von innen. Mitte Oktober veröffentlichte die Ramsay Foundation nun die erste unabhängige Studie zum Umgang des Landes mit der Pandemie.
Die Analyse "Fault lines" fand heraus, dass mehrere der Lockdowns und Grenzschliessungen vermeidbar gewesen wären, vor allem aber, dass Schulen hätten geöffnet bleiben sollen. Die Autorinnen und Autoren sehen ihren Bericht als Warnung an die Regierungen, bei künftigen Krisen nicht zu weit zu gehen. Familien mit niedrigem sozioökonomischem Status, Frauen, Kinder, Bewohnerinnen und Bewohner von Altenheimen, Menschen mit Behinderungen, Migrantinnen und Migranten, multikulturelle Gemeinschaften und andere, die ohnehin benachteiligt sind, waren der Studie zufolge die Hauptleidtragenden der Pandemie.
Die Premierminister von Victoria und Queensland kritisierten den Report als "zu akademisch". Im tendenziell progressivsten Bundesstaat Südaustralien fühlte sich Regierungschef Peter Malinauskas weniger angegriffen. Er empfahl, aus dem Bericht für die Zukunft zu lernen. (Von Julica Jungehülsing, New South Wales)
© RiffReporter
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