Die WHO errechnet bei Coronavirus-Erkrankten eine schockierend hohe Mortalitätsrate von 3,4 Prozent. Italien meldet sogar fast 5 Prozent. Rechnerisch würden damit nun Millionen Pandemie-Tote drohen. Doch Experten warnen vor falschen Hochrechnungen. Die Daten erzählen nur die halbe Wahrheit.

Dr. Wolfram Weimer
Eine Kolumne
Diese Kolumne stellt die Sicht von Wolfram Weimer dar. Informieren Sie sich, wie unsere Redaktion mit Meinungen in Texten umgeht.

Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat die Coronavirus-Epidemie wochenlang genau analysiert und die Weltöffentlichkeit eher beruhigt. Jede Panikmache, sogar das Wort "Pandemie" hat WHO-Generaldirektor Tedros Adhanom Ghebreyesus peinlich vermieden.

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Doch nun schlägt der einflussreichste Immunologe der Welt, der Mediziner war früher Gesundheitsminister und Aussenminister Äthiopiens, in höchst dramatischer Form Alarm: "Dies ist ein einzigartiges Virus mit einzigartigen Eigenschaften. Dieses Virus ist keine Grippe", mahnt der WHO-Direktor.

Das Virus sei sehr viel bedrohlicher und tödlicher als viele ahnen. "Wir fordern jedes Land auf, schnell, umfassend und mit klarer Entschlossenheit zu handeln. Dies ist nicht die Zeit für Ausreden. Dies ist die Zeit, alle Register zu ziehen."

Sterberate: Experten warnen vor falschen Schlüssen

Die heikelste Frage nach der tödlichen Kraft des Virus adressiert der weltoberste Pandemiker so: "Weltweit sind etwa 3,4 Prozent der gemeldeten COVID-19-Fälle gestorben."

Eine Sterblichkeitsrate von 3,4 Prozent - basierend auf inzwischen sechsstelligen, echten Fallzahlen - ist schockierend hoch. Denn: Sollten sich - wie die Berliner Charité und das Robert-Koch-Institut das nun prognostizieren - rund 70 Prozent der Deutschen letztlich infizieren, müssten wir demnach rechnerisch 1,9 Millionen Tote alleine in Deutschland befürchten.

Stehen wir vor einem epochalen Massensterben? Unterschätzt die Bundesregierung die Gefahr? Experten warnen vor falschen und übertriebenen Schlüssen.

Ursprünglich hatte die Weltgesundheitsorganisation am 29. Januar und erneut im Februar nur 2 Prozent als Coronavirus-Sterblichkeitsrate genannt. Nun gelten die höheren Zahlen als Orientierungsgrösse.

Besonders in Italien deutet sich eine sehr hohe Mortalitätsrate an. Bislang sind dort 7.375 Krankheitsfälle bestätigt, aber schon 366 Tote gezählt. Damit meldet Italien eine Sterberate von fast 5 Prozent. Zum Vergleich: Die Schweinegrippe kam 2009 auf eine geschätzte Sterberate von einem Verstorbenen bei 10.000 Infizierten, das sind 0,01 Prozent.

Für die jährliche Grippewelle gehen die Schätzungen von ein bis zwei Todesfällen pro 1.000 Infizierten aus, was eine Sterberate von 0,1 bis 0,2 Prozent bedeutet. Damit wäre das Coronavirus 20- bis 30-mal so tödlich wie bislang bekannte Grippe-Epidemien.

Gewaltige Dunkelziffer von Infizierten

Tatsächlich aber glaubt kaum ein Wissenschaftler für Deutschland ernsthaft an eine echte Sterberate von 3,4 Prozent oder mehr. Der Grund liegt in der gewaltigen Dunkelziffer von Infizierten.

Die amtlichen Sterberaten errechnen sich nur aus Todesquoten, die auf getesteten, gemeldeten und sicheren Krankheitsfällen basieren. Damit aber erfasst man nicht die vielen Fälle, in denen Menschen sich zwar infizieren, die Krankheit aber nicht ausbricht oder nur sehr milde verläuft.

So weisen Epidemologen darauf hin, dass die Infektionstödlichkeitsrate, die jeden einschliesst, der mit dem Virus infiziert ist, deutlich niedriger ausfalle. Konkret: In Italien haben sich sehr wahrscheinlich nicht nur die 17.660 offiziell Getesteten, sondern Hunderttausende bereits infiziert, gemessen daran seien die 1266 Toten nicht mehr so dramatisch.

Die Zahl der Labortests spielt eine Schlüsselrolle in der Beurteilung der Sterberaten. Zu wenige Tests können dazu führen, dass die gemeldeten Todesraten verzerrt hoch sind. Darum halten viele Mediziner die WHO-Zahl auch für übertrieben gross.

"Da es sich bei den meisten Fällen um leichte Fälle handelt und die Tests nicht universell sind, können wir per definitionem nicht alle Fälle erkennen und zählen", so Mark Lurie, Professor für Epidemiologie an der Brown University.

Mortalität rund um 1 Prozent erwartbar

In Südkorea wird relativ viel getestet. Dies führt dazu, dass viele auch mild verlaufende Infektionen erfasst werden. So kommt Südkorea bei rund 7979 offiziell Infizierten nur auf 71 Todesfälle - also deutlich weniger als 1 Prozent. Ähnliches wird auch für Deutschland erwartet, wo eine ausdifferenzierte Laborlandschaft weiträumige Tests ermöglicht.

Lothar Wieler, Präsident des Robert-Koch-Instituts, nennt auch für Deutschland eine Mortalität rund um 1 Prozent als erwartbar. Im Vergleich zu einer Grippewelle seien die statistischen Sterberaten des Coronavirus "fünf- bis zehnmal so hoch". Aber: Diese Raten "ändern sich kontinuierlich, weil wir noch nicht so viele Zahlen haben".

Die Ein-Prozent-Marke gilt unter den meisten Experten zusehends als eine realistische Grösse. Anthony Fauci, Direktor des Nationalen Instituts für Allergie und Infektionskrankheiten in den USA, erklärt ebenfalls, dass die Sterblichkeitsrate am Ende nur 1 Prozent betragen könnte. Aber selbst wenn dies der Fall wäre, so wäre sie immer noch zehnmal so hoch wie die durchschnittliche Sterblichkeitsrate bei der saisonalen Grippe.

Der Kassenarztpräsident Andreas Gassen geht davon aus, dass sich in den kommenden Monaten ein Grossteil der deutschen Bevölkerung anstecken wird, bevor die Ausbreitung zu einem wirklichen Halt kommt.

"Das mag für den Laien schockierend wirken, ist aber nüchtern betrachtet nichts Bedrohliches: Es gibt Viren, die praktisch jeden mindestens einmal befallen. Zum Beispiel Herpes und Influenza", sagte der Vorstandsvorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV). Man spreche in dem Fall von einer "Durchseuchung" der Gesellschaft, die dann letztlich zu einer Art Herden-Immunität führe.

Entscheidend: Die Zahl der Plätze auf Intensivstationen

Bei einer Durchseuchung wird die tatsächliche Sterblichkeitsrate besonders stark von der Qualität des Gesundheitssystems abhängen. In Deutschland werden akut Erkrankte deutlich besser behandelt und versorgt als in ärmeren Länder, wo der Ausbruch gerade erst beginnt. Daher sagen die Experten stark unterschiedliche Sterberaten für reiche und arme Länder voraus.

Entscheidend für das Ausmass der Todeszahlen wird sein, wie viele Plätze auf Intensivstationen zur Verfügung stehen. Patienten, die rechtzeitig auf Intensivstationen verlegt werden, haben gute Überlebenschancen.

So hat die italienische Regierung nun beschlossen, die Zahl der Plätze auf den Intensivstationen der Krankenhäuser um 50 Prozent zu erhöhen. Bei der Zahl der Betten in den Abteilungen für Pneumologie und Infektionskrankheiten kommt es zu einer Verdoppelung. In Deutschland gibt es rund 28.000 Intensivbetten auf rund 1200 Intensivstationen. Diese sind aber zu mehr als 80 Prozent bereits belegt. Es bräuchte also eine schnelle Aufstockung der Kapazitäten.

"Als die Einrichtungen überlastet wurden, gab es mehr Todesfälle", berichten chinesische Ärzte. Sie warnen eindringlich, es komme ganz konkret darauf an, die Zahl der Beatmungsgeräte rasch zu erhöhen. In den USA gibt es aus militärischen Beständen eine strategische Reserve an Beatmungsmaschinen. In Deutschland nicht.

Kranke mit Zugang zu Beatmungsmaschinen haben deutlich höhere Überlebenschancen. Dieser Zugang wird sich verbessern, wenn die aktuelle Influenzawelle überstanden ist. Auch deswegen setzt das Robert-Koch-Institut hauptsächlich auf eine Strategie des Zeitgewinns durch verlangsamte Durchsuchung.

So wie Angela Merkel erklärt auch das RKI: "Ziel dieser Strategie ist es, in Deutschland Zeit zu gewinnen, um sich bestmöglich vorzubereiten und mehr über die Eigenschaften des Virus zu erfahren, Risikogruppen zu identifizieren, Schutzmassnahmen für besonders gefährdete Gruppen vorzubereiten, Behandlungskapazitäten in Kliniken zu erhöhen, antivirale Medikamente und die Impfstoffentwicklung auszuloten. Auch soll ein Zusammentreffen mit der aktuell in Deutschland laufenden Influenzawelle soweit als möglich vermieden werden, da dies zu einer maximalen Belastung der medizinischen Versorgungsstrukturen führen könnte."

Der besorgte WHO-Generaldirektor appelliert daher auch an jeden Einzelnen: "Jeder Versuch, das Virus einzudämmen und die Ausbreitung zu verlangsamen, rettet Leben."

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