Mindestabstand und Händewaschen reichen möglicherweise nicht aus, um die Ausbreitung von SARS-CoV-2 zu verhindern. Neue Untersuchungen weisen daraufhin, dass Aerosole eine grössere Rolle bei der Ansteckung mit dem neuen Coronavirus spielen könnten, als bisher angenommen.

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Nachdem nach einem Gottesdienst in der Baptisten-Gemeinde in Frankfurt am Main mehr als 200 Menschen an COVID-19 erkrankten – trotz Sicherheitsabstand und Händedesinfektion – wird die Rolle von Aerosolen bei der Übertragung des SARS-CoV-2-Erregers intensiv diskutiert.

Bei der Erarbeitung von infektionsschützenden Corona-Regeln wurden Aerosole bisher kaum beachtet. Hauptaugenmerk lag bislang auf der Tröpfcheninfektion, also der Übertragung durch Körperflüssigkeiten, die etwa durch Husten oder Niesen in die Luft geraten oder durch Körperkontakt wie Händeschütteln übertragen werden.

Neue Untersuchungen lassen nun darauf schliessen, dass die Infektionsgefahr durch Aerosole höher ist, als zunächst angenommen.

Aerosole – schwebende Infektionsgefahr

Bei Aerosolen handelt es sich um Gemische aus flüssigen oder festen Schwebeteilchen in einem Gas. Sie entstehen, wenn Tröpfchen vernebelt werden, etwa beim Sprechen an den Stimmlippen am Kehlkopf.

Im Vergleich mit durch Husten oder Niesen verbreiteten Tröpfchen sind Aerosole winzig klein. Während Tröpfchen schnell auf den Boden fallen, können Aerosole sich über mehrere Stunden in der Luft halten. Hält sich eine mit SARS-CoV-2 infizierte Person mit anderen Personen in einem geschlossenen Raum auf, könnte der Erreger auch bei eingehaltenem Sicherheitsabstand über die Luft übertragen werden.

Forscher des National Institute of Health in Bethesda (US-Bundesstaat Maryland) untersuchten die Entstehung von Aerosolen beim Sprechen. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass messbare Aerosole im Schnitt zwölf Minuten in der Luft schweben. Das "New England Journal of Medicine" berichtet von einer Halbwertszeit von SARS-CoV-2 in Aerosolen von ungefähr 1,1 bis 1,2 Stunden.

Weitere Untersuchungen mit im Labor hergestellten Aerosolen lassen ebenfalls vermuten, dass SARS-CoV-2-Viren über Aerosole im Alltag von Mensch zu Mensch übertragen werden können. Wie lange vermehrungsfähige Viren in den Schwebeteilchen überleben können, kann jedoch noch nicht abschliessend bewertet werden.

Aerosole so gefährlich wie Tröpfchen?

Virologe Christian Drosten deutet im Gespräch mit dem Deutschlandfunk an, dass die Relevanz von Aerosol-Infektionen und Tröpfcheninfektionen gleichbedeutend sein könnten. In schlecht belüfteten Räumen könnte die Infektionsgefahr besonders hoch sein. In diesen können sich Aerosole ansammeln und über die Atemwege tief in die Lunge geraten. Deshalb müssten die bislang geltenden Richtlinien zur Eindämmung des Coronavirus womöglich überarbeitet werden.

Wie dieses neue Konzept aussehen könnte? Martin Weskott, Facharzt für Allgemeinmedizin und Arbeitsmedizin, meint: "Ausser Kontakte weiterhin so weit wie möglich zu meiden, Abstand zu halten und FFP2-Masken für medizinisches Personal gibt es wohl keine flächendeckende Lösung. In medizinischen Einrichtungen wird derzeit alles im Wesentlichen umgesetzt. Neue Richtlinien wie eine Lüftungspflicht für ganz Deutschland und neue Masken werden kaum um- und durchzusetzen sein. Es bleibt ein erhebliches Restrisiko, dem wohl nichts Technisches entgegenzusetzen ist."

Hält ein Mund-Nasen-Schutz Aerosole ab?

Doch wie kann man sich vor einer aerogenen Übertragung (über den Luftweg) von SARS-CoV-2 schützen? Weder Sicherheitsabstand, Desinfektionsmittel oder DIY-Masken greifen hier. Denn: "Selbstgemachte Mund-Nasen-Schutzmasken schützen nicht primär den Träger, sondern die Umgebung vor grossen Tröpfchen. Aerosole können sie nicht herausfiltern. Stünden für alle Bürger FFP2- oder FFP3-Masken zur Verfügung, sähe es etwas besser, aber keinesfalls vollkommen sicher aus“, warnt Dr. Weskott.

In geschlossenen Räumen können regelmässiges Lüften oder spezielle Filter für Klimaanlagen infektiöse Aerosole reduzieren. Im Freien hingegen müsse man eine Ansteckung eher nicht befürchten, so der Mediziner. An der frischen Luft verdünnen sich die Aerosole.

Auf ihrer Internetseite schreibt die "Evangeliums Christen Baptisten Gemeinde“ in Frankfurt am Main: "Im Nachhinein betrachtet wäre es für uns angebracht, beim Gottesdienst Mund-Nasen-Schutz-Bedeckungen zu tragen und auf den gemeinsamen Gesang zu verzichten." Christian Drosten würde dies sicherlich begrüssen. Allerdings würde er wohl eher zu Gesang und Gebet unter freiem Himmel raten – oder zumindest zu weit geöffneten Fenstern und Ventilatoren, die die Luft nach draussen befördern.

Über den Experten: Dr. Martin Weskott ist Facharzt für Allgemeinmedizin, Arbeitsmedizin und Allergologie. Er ist als Facharzt in einer Lungenpraxis in Düsseldorf tätig.

Verwendete Quellen:

  • PNAS: "The airborne lifetime of small speech droplets and their potential importance in SARS-CoV-2 transmission"
  • The New England Journal of Medicine: "Aerosol and Surface Stability of SARS-CoV-2 as Compared with SARS-CoV-1"
  • Deutschlandfunk: "Welche Rolle spielen Aerosol-Partikel bei der Übertragung des Coronavirus?"
  • Robert-Koch-Institut: "SARS-CoV-2 Steckbrief zur Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19)"
  • Pschyrembel: "Aerosole"
  • Pharmazeutische Zeitung: "SARS-CoV-2-Infektionen über Aerosole immer wahrscheinlicher"
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