Das Ernährungsverhalten der Deutschen ändert sich: Die Zahl der Vegetarier wächst, vor allem unter jüngeren Menschen. Doch es könnte sich noch mehr tun: Bei der Energiewende wird viel über Technologieoffenheit gesprochen – warum nicht auch bei der Ernährungswende? Insekten, Quallen, Seegurken und Algen drängen auf den Speiseplan.
Die Deutschen essen weniger Fleisch. Der Pro-Kopf-Konsum ist im Jahr 2022 auf 52 Kilogramm gesunken, vier Kilo weniger als im Jahr davor. Zu diesen Verhaltensänderungen kam es ganz ohne staatliche Vorgaben wie den Veggieday oder höhere Steuern auf Fleischprodukte, die in den vergangenen Jahren für Aufruhr sorgten.
Niedrigster Pro-Kopf-Konsum an Fleisch seit 1989
52 Kilo pro Person, das ist nicht nur ein erneuter Rückgang gegenüber dem Vorjahr, sondern auch der niedrigste Wert seit 1989, dem Jahr, in dem das Bundesinformationszentrums Landwirtschaft (BZL) seine regelmässigen Verzehrstatistiken begonnen hat. Vor allem Schweinefleisch wird immer unbeliebter: Der Verbrauch ging seit 1997 um 25 Prozent zurück, während Geflügel häufiger gegessen wird. In einer von der Deutsche Presse-Agentur (dpa) beauftragten Umfrage sagten 47 Prozent der Deutschen, dass sie weniger Fleisch essen als vor drei Jahren.
Gleichzeitig boomt der Verkauf von pflanzenbasierten Lebensmitteln. Die Branche konnte ihren Umsatz in den wichtigsten europäischen Ländern seit 2020 im Durchschnitt um 21 Prozent auf 5,8 Milliarden Euro steigern. In Deutschland sind die Pflanzenprodukte besonders erfolgreich: Knapp zwei Milliarden gingen in diesem Segment im Jahr 2022 über die Kassen des Einzelhandels. Und das, obwohl Fleisch nach wie vor nur mit sieben Prozent Mehrwertsteuer belegt wird, während auf Fleischalternativen 19 Prozent anfallen. Der Umsatz stieg damit binnen zwei Jahren um 42 Prozent. Nach Branchenangaben machen dabei die Ersatzprodukte für Fleisch und Milch mehr als 60 Prozent aus, mit grossem Abstand folgen Brotaufstriche, Joghurt und Eiscreme.
Verzicht auf Fleisch wegen Tierwohl und Klimakrise
Die deutschen Biobauern haben sich bei der Bestellung ihrer Felder längst der hohen Nachfrage nach Haferprodukten als Ersatz für Milch angepasst. Beim Fleischersatz konkurrieren die Fleischimitate inzwischen beispielsweise mit Hamburger-Pattys, die bewusst eine eigene Geschmacksnote entwickeln sollen. Der Erfolg resultiere vor allem daraus, dass die Unternehmen bessere pflanzenbasierte Produkte auf den Markt gebracht hätten, sagt Carlotte Lucas, Engagement Managerin des Good Food Institute Europe, einer NGO, die sich für die Einführung neuer Proteinquellen in der Ernährung einsetzt. "Dies ist ein guter Schritt auf dem Weg zur Lösung der Probleme, die durch die industrielle Tierhaltung verursacht werden", ergänzt sie.
Tatsächlich sind die Sorgen um das Tierwohl und die Verstärkung der Klimakrise durch die Fleischproduktion laut Umfragen die mit Abstand wichtigsten Gründe der Verbraucherinnen und Verbraucher für den zunehmenden Verzicht auf Fleisch. Wie sich Ernährungsgewohnheiten auch in Deutschland ändern können, zeigt das Beispiel der Sushi-Restaurants, die in den 1980er-Jahren noch als seltsame Exoten kritisch beäugt wurden, inzwischen aber zumindest in grösseren Städten selbstverständlich sind. Auch das Leben der knapp acht Millionen Vegetarierinnen und Vegetarier in Deutschland ist durch die wachsende Produktvielfalt einfacher geworden.
Mehr Offenheit für Ernährungswende nötig
Doch die Daten zum Einfluss der Fleischproduktion auf Klimakrise und Flächenverbrauch zeigen, dass noch mehr Veränderungen im täglichen Speiseplan nötig sind. Die Europäische Union hat 2021 eine Tür dafür geöffnet, als sie die Larven des Mehlkäfers und getrocknete oder gemahlene Wanderheuschrecken als Lebensmittel aus der Insektenzucht offiziell zuliess. Inzwischen wurden weitere Produkte genehmigt oder durchlaufen den Prüfprozess, doch die Neulinge haben sich im Markt noch nicht durchgesetzt. Akzeptiert werden die Käferlarven und Heuschrecken bisher allenfalls bei Sportlerinnen und Sportlern, die den hohen Proteingehalt von 60 Prozent schätzen.
Dabei gibt es viele andere Vorzüge. Mehlwürmer enthalten etwa 20 Prozent ungesättigte Fettsäuren, darunter die gesunden Omega-3-Fettsäuren. Sachlich betrachtet sind Insekten eine qualitativ hochwertige Proteinquelle. Sie benötigen bei gleicher Menge Protein weniger Platz, Wasser und Antibiotika als Rinder, Schweine oder Hühner und verursachen deutlich weniger Treibhausgas-Emissionen. Die professionelle Insektenzucht für den Lebensmittelmarkt hat nichts mit der weitverbreiteten Vorstellung von Schmutz und Dreck zu tun. Viele Insektenzüchter laden inzwischen zu Führungen durch die Produktionshallen ein, um Verbraucherinnen und Verbraucher zu überzeugen.
Hersteller haben Angst vor Ekelfaktor
Doch viele Hersteller haben Angst, dass der Ekelfaktor die Kundinnen und Kunden abschreckt. Die Innung des deutschen Bäckerhandwerks bietet ihren Mitgliedsbetrieben bereits Plakate als grossflächiges Statement an, dass sich der Betrieb gegen das Verbacken von Insekten entschieden habe. Noch fällt den Bäckerinnen und Bäckern die Ablehnung der neuen Zutat leicht, denn Insektenmehl ist deutlich teurer als die Getreidevariante. Und weil die Genehmigung bisher nur für einen Hersteller gilt, fehlt ein Wettbewerb, der die Preise drücken würde. Doch diese Rahmenbedingungen am Markt können sich schnell ändern.
Viele Lebensmittelketten haben bereits eigene Erfahrungen mit Insektenprodukten gemacht, die dank einer Übergangsregelung auch schon vor der EU-Zulassung verkauft werden durften. Die Experimentierfreude sei grösser als allgemein angenommen, heisst es aus Marktkreisen. Vielleicht tun sich die Verbraucherinnen und Verbraucher mit dem Verzehr ganzer Tiere schwer, aber Insektenmehl als klimaschützende Zutat von Backwaren, Pattys, Nudeln, Chips und anderen Lebensmitteln könnte sich schnell durchsetzen.
"Wir müssen über unseren Schatten springen"
Doch das alles wird nur der Anfang sein. "Wie nachhaltig und ressourcenschonend wir uns in Zukunft ernähren können, hängt auch davon ab, welche neuen Nährstoffquellen wir als Nahrung akzeptieren. Wir müssen neugieriger werden und auch ab und zu über unseren Schatten springen", fordert Holger Kühnhold. Der Biologe vom Leibniz-Zentrum für Marine Tropenforschung (ZMT) in Bremen erforscht die Ozeane als Speisekammer. Bisher habe sich die Menschheit zu sehr auf den Verzehr von Raubfischen konzentriert, sagt Kühnhold. Doch in der Ökobilanz haben Lachs und Thunfisch ein ähnliches Problem wie Rinder: Sie müssen sehr viel fressen, während letztlich nur wenig Fleisch auf dem Teller landet.
Kühnhold und viele andere Forscher wollen deshalb bessere Futterverwerter und bisher ungenutzte Pflanzen und Tiere aus den Weltmeeren in die Küchen bringen: Algen, Quallen und Seegurken sind hochwertige Proteinquellen. Wasserlinsen gedeihen als schnellwachsende Art in Süsswasserseen. Die kleinen grünen Kügelchen sind zwar ziemlich geschmacklos, aber enthalten ungesättigte Fettsäuren und haben einen Proteinanteil von 30 Prozent der Trockenmasse. Sie eignen sich zwar nicht zum Sattessen, könnten aber so manches Gericht bereichern.
Das ZMT erforscht die Zucht von Mangrovenquallen, die mit dem Schirm nach unten gerichtet am Boden leben. Sie eignen sich daher sehr gut für eine landbasierte Zucht auch ausserhalb des Meeres. "Getrocknete Quallen haben ein ausgezeichnetes Nährwertprofil mit hochwertigen Eiweissen, Mineralien, Fettsäuren und vielen weiteren gesunden Mikronährstoffen", sagt Kühnhold. In den Aquarien wachsen auch Seetrauben, Grüner Kaviar genannt. Diese Makroalgen bilden feste Kugeln, die im Mund wie Kaviar zerplatzen und dabei ihren leicht salzigen Geschmack freisetzen.
Diese neuen Geschmackserlebnisse könnten die Attraktivität alternativer Ernährungsweisen erhöhen und den Verzicht auf das Klimaproblem Fleisch erleichtern. Für Holger Kühnhold ist klar, dass die Erweiterung des Speiseplans nicht nur durch Wildfang erfolgen kann. Fehler wie das Leerfischen der Meere sollen sich nicht wiederholen. Algen, Quallen und Seegurken lassen sich auch gemeinsam mit anderen Organismen kultivieren. Sie könnten beispielsweise in Aquakulturen für Fische und Garnelen überschüssiges Futter und andere Abfallprodukte verwerten. Seegurken zum Beispiel sind Spezialisten für die Biomüll-Verwertung.
Neue Technologien sorgen für neue Herstellungsmethoden
Technologieoffenheit kann auch bedeuten, dass ganz andere Methoden zur Herstellung von Lebensmitteln eingesetzt werden. Die Proteine der Milch lassen sich durch moderne Biotechnologie auch ganz ohne Kuh erzeugen. Eiweiss kann ohne Hühner produziert werden. Die Verfechter dieser Technologie wollen Huhn und Kuh nicht komplett abschaffen. Doch wenn deren Produkte ohnehin in industriellen Produktionsprozessen beispielsweise für Nudeln oder Gebäck verwendet werden, kann man auch gleich die Zutat nutzen und sie nicht noch kompliziert von anderen Bestandteilen eines Hühnereis trennen. Das Frühstücksei stammt weiter vom Huhn.
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Diese neuen Produkte erfordern spezielle Werbung. Der europäische Forschungsverbund "Go Jelly" erforscht nicht nur die Zucht von Quallen. Er hat auch Köchinnen und Köche um Rezepte gebeten. Kurz gekochte Quallen vermischt mit marinierten Zuccinistreifen, roter Bete und Algen eignen sich als Vorspeise. Ein Koch platziert die durchsichtigen Tiere auf buntem Quinoa. Oder in einer Sesamsauce auf Nudeln. Auch so kann man Lust auf alternative Lebensmittel machen.
Verwendete Quellen:
- Pressemitteilung der Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung: Fleischverzehr 2022 auf Tiefstand
- Sachverständigenrat für Umweltfragen: Politik in der Pflicht: Umweltfreundliches Verhalten erleichtern
- gfi/Europe: The plant-based sector is on the up in Europe
- Zentralverband des Deutschen Bäckerhandwerks e. V.: Kostenlose Vorlagen: keine Käfer und Grillen!
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