Psychologinnen und Psychologen in den USA haben bei Jugendlichen die Gehirnstrukturen vor und nach den coronabedingten Schulschliessungen untersucht. Grosse Unterschiede fanden sie vor allem bei Mädchen. Welche Rolle das spielt und wie langfristig die Veränderungen bleiben, ist allerdings umstritten.

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Seit mehreren Jahren befragt der Jugendforscher Simon Schnetzer in regelmässigen Abständen mehr als 2.000 Jugendliche und junge Erwachsene in Deutschland. Der jüngste seiner Trendreports "Jugend in Deutschland" geht auf Daten aus dem Februar dieses Jahres zurück – und dokumentiert ein besonders hohes Level an psychischer Belastung: 51 Prozent der Befragten berichteten von Stress, 36 Prozent von Erschöpfung und kaum weniger von Selbstzweifeln und Antriebslosigkeit. Ein Gefühl der "Gereiztheit" empfindet jeder Vierte.

Für Sorgen und Ängste gibt es viele aktuelle Gründe: der russische Krieg in der Ukraine, die wirtschaftliche Entwicklung, die Klimakrise, die aufgeheizte gesellschaftliche Stimmung.

Expertinnen und Experten gehen zudem davon aus, dass die Pandemie-Erfahrungen bis heute nachwirken. In den Corona-Jahren nahmen Angstsymptome und Depressionen gerade unter älteren Kindern deutlich zu. Eine Studie der Universität Konstanz aus dem vergangenen Jahr machte dafür vor allem die direkten und indirekten Folgen des Lockdowns verantwortlich. "Insgesamt erklärt die Schliessung von Schulen weitgehend die Verschlechterung der psychischen Gesundheit von Jugendlichen während der ersten Pandemiewelle", schreiben die Autoren.

Veränderungen an der Gehirnrinde verliefen in der Pandemie beschleunigt

Nun hat ein US-amerikanisches Forscherteam um die Psychologin Patricia K. Kuhl untersucht, ob die Corona-Zeit in den Köpfen der Kinder auch messbare Veränderungen der Anatomie des Gehirns hinterlassen hat. Dazu verglich es die Gehirnstrukturen von Kindern und Jugendlichen vor und nach den Lockdowns.

Die Grundlage bildeten frühere Aufnahmen von Magnetresonanztomografen (MRT): 160 Kinder zwischen 9 und 17 Jahren hatten sich im Jahr 2018, also deutlich vor Beginn der Pandemie, untersuchen lassen. 130 von ihnen kamen drei Jahre später, zwischen Mitte 2021 und Anfang 2022, zu einem zweiten Gehirn-Scan. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler stellten fest: Die Gehirnrinde hatte in diesen Jahren schneller an Dicke verloren, als dies bei einer üblichen Entwicklung von Jugendlichen in diesem Alter zu erwarten gewesen wäre.

Die Entwicklung dieser Struktur gilt als wichtiges neurowissenschaftliches Kriterium, weil Veränderungen an der Grosshirnrinde mit zahlreichen neurologischen Krankheiten in Verbindung stehen. Dass die Dicke derart schnell zurückging, könnte eine Folge von Lockdown-Stress sein – eine womöglich unumkehrbare Veränderung, vermuten die Forschenden. Ihre Studie haben sie im renommierten Fachjournal "Proceedings of the National Academy of Sciences" (PNAS) publiziert.

Die Adoleszenz – also den Zeitraum etwa zwischen dem zehnten und zwanzigsten Lebensjahr eines Menschen – beschreiben die Neurowissenschaftler als Periode der intensiven sozial-emotionalen Entwicklung. Die Gehirnstruktur verändert sich in dieser Zeit dramatisch. In dieser Phase kann die soziale Isolation infolge von Schulschliessungen daher besonders weitreichende Folgen für die psychische Gesundheit haben.

Veränderungen bei Mädchen mehr als doppelt so schnell wie bei Jungen

Bei ihrem Abgleich der MRT-Aufnahmen fanden die Forschenden besonders grosse Effekte bei Mädchen. Dass die Dicke der Gehirnrinde abnimmt, ist zwar ein normaler Vorgang. Bei Mädchen war diese Veränderung bei der zweiten Messung der erwarteten Entwicklung jedoch um 4,2 Jahre voraus, bei Jungen immerhin noch um 1,4 Jahre.

Aus Sicht der Autoren geht damit ein höheres Risiko für neuropsychiatrische und Verhaltensstörungen einher. Besonders deutlich änderten sich jene Regionen der Hirnrinde, die unter anderem mit sozialen Interaktionen und die emotionale Steuerung in Verbindung gebracht werden.

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Ob die Studie derart weitreichende Interpretationen zulässt, ist aber selbst bei Fachkollegen umstritten. Neben der relativ kleinen Zahl an Teilnehmenden weist die Methodik einige weitere Schwächen auf: So untersuchten die US-Psychologinnen und -Psychologen nicht, wie der MRT-Befund und der tatsächliche psychische Gesundheitszustand einer Person zusammenhingen. Ob es jenen Jugendlichen, bei denen die Gehirnrinde besonders stark zurückging, schlechter ging als durchschnittlichen Gleichaltrigen, ist also unklar.

Kritik an der Studie

Und es gibt noch eine weitere Kritik: In einer 2023 publizierten niederländischen Studie hatte eine dünnere Gehirnrinde nicht nur negativen Folgen, sondern stand auch mit positiven Beobachtungen im Zusammenhang, beispielsweise mit einer besseren Qualität von Freundschaften.

Hinzu kommt: Welche Rolle die Lockdowns auf die Gehirnentwicklung direkt spielten und welche Bedeutung andere Faktoren hatten – zum Beispiel weniger Bewegung und mehr Zeit am Bildschirm –, bleibt ebenfalls offen. Die Lockdown-Erfahrungen der Studienteilnehmenden dürften sich unterschieden haben, ihre individuelle Situation floss jedoch nicht in die Studie mit ein. Nicht zuletzt räumen die Autoren ein, dass auch Corona-Infektionen zu den Gehirnveränderungen beigetragen haben könnten.

Die Neurowissenschaftlerin Lise Eliot kritisiert, dass die Studie geschlechtsspezifische Unterschiede derart stark betont. Die These, dass die Gehirne von Teenager-Mädchen irgendwie anfälliger seien als die von Jungen, sei "provokativ", sagte die Professorin der Rosalind Franklin University in Chicago dem Science Media Center.

Die niederländische Studie habe zudem keine derartigen Unterschiede festgestellt, betont sie. Bekannt sei, dass die Gehirnentwicklung im Zuge der Pubertät, in deren Zuge auch die Gehirnrinde dünner wird, bei Mädchen ein bis zwei Jahre früher beginne als bei Jungen: "Der Geschlechtsunterschied könnte also eher ein Pubertätseffekt sein als ein Geschlechtsunterschied."

Dass Mädchen während der Pandemie wohl stärker psychisch litten, ist indes grundsätzlich anerkannt. Bereits 2022 veröffentlichte die Krankenkasse DAK-Gesundheit einen Report, für den sie Abrechnungsdaten von 800.000 Kindern und Jugendlichen aus den Jahren 2019 bis 2021 auswerten liess. Mädchen im Teenager-Alter mussten sich demnach 32-mal so oft wegen Essstörungen stationär behandeln lassen wie Jungen. Zudem kamen sie fünfmal häufiger wegen Depressionen und dreimal häufiger wegen Angststörungen in die Klinik.

Kinderpsychologe: "Das System ist überlastet"

Auch wenn sich die US-Psychologen mit der Interpretation ihrer aktuellen Studienergebnisse recht weit aus dem Fenster lehnen: Welche Rolle Gehirnveränderungen für die psychische Gesundheit der Jugendlichen spielen, lässt sich mit ihrer neuen Studie noch nicht beantworten – ebenso wenig die Frage, ob die Veränderungen tatsächlich über längere Zeit anhalten werden.

Es sei durchaus "möglich, dass drastische Erfahrungen oder Stress Einfluss auf die Gehirnentwicklung nehmen können und dass diese Veränderungen auch bleiben", sagt die Neurowissenschaftlerin Sofie Valk. Doch: "Es ist bisher nicht bekannt und sehr spekulativ, ob Einflüsse auf die Gehirnentwicklung von Dauer sind oder wie langfristig sie sich auswirken", so die Leiterin der Otto-Hahn-Forschungsgruppe Kognitive Neurogenetik am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig.

Umso wichtiger scheint es daher viereinhalb Jahre nach Beginn der Pandemie, die psychischen Folgen aufzufangen. "Das System ist überlastet", hatte Julian Schmitz bereits im Mai dieses Jahres gewarnt. Der Professor für Klinische Kinder- und Jugendpsychologie an der Universität Leipzig bemängelte fehlende Plätze in der Kinderpsychotherapie und warf zugleich dem Schulsystem Versagen vor: Die Einrichtungen seien nach den Lockdowns zu sehr darauf fokussiert, Lernstoff nachzuholen, statt auch das seelische Wohlergehen der Kinder im Blick zu haben. Wichtig sei es, den Leistungsdruck zu reduzieren.

Verwendete Quellen

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