Zahnarztbohrer oder kratzende Gabeln auf dem Teller – wir alle kennen Geräusche, bei denen sich uns die Nackenhaare aufstellen. Für Menschen, die unter sogenannter Misophonie leiden, werden aber schon weniger aufdringliche Geräusche wie Schmatzen oder Kauen zur Qual. Was lässt sich dagegen tun?
Der 17-jährige Michael konnte Essgeräusche nicht ertragen. Kauen und Schmatzen lösten bei ihm unbändige Wut aus. Seine Familie und Freunde bat er darum, nicht in seiner Gegenwart zu essen. Taten sie es doch, beschimpfte er sie. So ist es in einer wissenschaftlichen Fallstudie nachzulesen, die 2017 veröffentlicht wurde. Michael zog sich immer mehr zurück – an gemeinsame Familienessen waren nicht mehr zu denken.
Das, woran Michael leidet, nennen Fachleute Misophonie. Der Begriff setzt sich aus den griechischen Wörtern "misos" für Hass und "phone" für Geräusch zusammen, er beschreibt den Hass auf ein spezifisches Geräusch. Schmatzen, Schnalzen oder Atmen – praktisch alle Körpergeräusche können Auslöser sein. Manchmal auch das Klackern eines Kugelschreibers oder Gesten wie das Übereinanderschlagen der Beine. Die meisten Betroffenen ertragen aber keine Kaugeräusche.
"Die Auslöser sind immer menschgemacht", sagt Stefan Röpke, ärztlicher Direktor und Chefarzt der Oberberg Fachklinik Berlin-Brandenburg. Während andere diese Alltagsgeräusche oft gar nicht wahrnehmen oder zumindest nicht als besonders störend empfinden, lösen sie bei den Betroffenen Ärger, Wut oder Ekel aus. "Das kann so weit gehen, dass Betroffene sogar aggressiv oder handgreiflich werden oder sich sozial völlig zurückziehen", sagt Röpke.
Ursachen von Misophonie weitgehend unklar
Der emotionale Stress, den Betroffene dabei erleben, lässt sich sogar objektiv messen: Ihr Herz schlägt schneller, der Blutdruck steigt. Auch Symptome wie Schweissausbrüche und Übelkeit sind keine Seltenheit. Bislang wurde Misophonie jedoch nicht als eigenständige Krankheit klassifiziert. Viele Fragen sind noch offen.
Die Ursachen der Sensibilitätsstörung sind bis heute nicht ausreichend erforscht. "Es gibt offenbar eine genetische Prädisposition", sagt Röpke. "Man erbt einfach die Veranlagung dazu." In einer Studie fanden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der University of Newcastle heraus, dass bei Misophonie-Betroffenen eine Störung von emotionalen Kontrollmechanismen im Gehirn vorliegt. Warum jedoch die eine Person mit dieser Veranlagung an Misophonie erkrankt und eine andere nicht, ist bislang unklar.
Typisch ist, dass das Phänomen bereits im Kindes- und Jugendalter auftritt – so wie beim 17-jährigen Michael. Schätzungen zufolge könnten bis zu fünf Prozent der Gesamtbevölkerung von Misophonie betroffen sein, Frauen dabei häufiger als Männer.
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Dass tatsächlich so viele Menschen an einer schweren Ausprägung der Erkrankung leiden, bezweifelt der Experte allerdings. In der Klinik, an der Röpke arbeitet, trete Misophonie gelegentlich begleitend zu anderen Erkrankungen wie Depression, Angststörungen oder Posttraumatischer Belastungsstörung auf. "Es ist klinisch kein häufiges Problem", sagt Röpke. "Zumindest ist sie nicht der Grund, warum sich Menschen in eine Klinik begeben."
Schätzungen zeigten jedoch, dass vielen Menschen die Abneigung von Körpergeräuschen nicht fremd ist. Wie auch bei anderen psychischen Leiden gebe es bei Misophonie graduelle Abstufungen: Nicht immer überschreiten die Ausprägung die Grenze zum Krankhaften. "Manche Menschen empfinden ein Geräusch als lästig, können aber gut damit leben. Bei anderen kann das extreme Ausmasse annehmen und zu einer echten Belastung werden", sagt Röpke.
Grosse Belastung für Familie und Partnerschaft
Zur Belastung wird Misophonie dann nicht nur für die Betroffenen, sondern auch für Angehörige. Auffällig ist, dass sich die Geräuschempfindlichkeit besonders oft auf nahestehende Personen konzentriert. Nach Ansicht von Röpke hängt das womöglich damit zusammen, dass die Misophonie häufig bereits im Kindes- und Jugendalter auftritt – also dann, wenn die Betroffenen eng mit ihrer Familie zusammenleben. "Dann zeigt sich die Misophonie natürlich am ehesten bei den Personen, mit denen man die meiste Zeit verbringt."
Wenn das Gegenüber beim Essen regelmässig explodiert, sobald sich die Gabel dem Mund nähert, leidet die Beziehung zwangsläufig. Angehörige fühlen sich durch die Zurückweisung gekränkt und reagieren selten mit Verständnis. Bei den Betroffenen löst ihre Reaktion wiederum Scham- und Schuldgefühle aus. Beiden Seiten ist oftmals nicht bewusst, dass die Beschwerden Krankheitswert haben. "Viele verbuchen die Misophonie einfach als Überreaktion, als komische Eigenart", sagt Röpke.
Ist der Leidensdruck gross, sollten sich Betroffene Hilfe suchen. Denn unbehandelt kann eine schwere Misophonie zu Folge- und Begleiterkrankungen führen. "Suchtpatientinnen und -patienten haben uns berichtet, dass sie auch deshalb angefangen haben, Alkohol zu trinken, um das Geräusch weniger zu hören", sagt Röpke. "Daraus kann also auch eine Suchterkrankung werden." Auch soziale Ängste oder Depressionen können die Folge sein.
Wie lässt sich Misophonie behandeln?
Aber was lässt sich gegen Misophonie tun? Im Gegensatz zu Phobien, bei denen häufig empfohlen wird, sich dem Auslöser, auch Trigger genannt, zu stellen, führt das bei Misophonie häufig zu einem gegenteiligen Effekt: Die Reaktion darauf wird eher verstärkt und neue Trigger können hinzukommen. Röpke rät dazu, sich vor den Geräuschen zu schützen, ohne sich komplett aus dem Leben zurückzuziehen. "Nutzen Sie Kopfhörer oder Ohrstöpsel, wenn Sie das Schmatzen Ihres Sitznachbarn im Zug wütend macht."
Im häuslichen Rahmen sei es zudem wichtig, Bereiche zu schaffen, in denen Betroffene vor diesen Geräuschen geschützt seien und zur Ruhe kommen könnten. Beim Familienessen kann es manchen Betroffenen helfen, wenn Musik im Hintergrund läuft.
"Liegt eine Grunderkrankung wie eine Depression vor, ist es zunächst wichtig, diese zu behandeln", sagt Röpke. Häufig bessert sich dadurch auch die Misophonie. "Es gibt auch die Möglichkeit, solche Geräusche kognitiv umzudeuten", erklärt der Experte. Ähnlich wie in der Tinnitus-Therapie könne das störende Geräusch beispielsweise zu Meeresrauschen umgedeutet und so als weniger störend empfunden werden.
"Oder lernen Sie, den Fokus nicht auf das Geräusch zu legen: Achten Sie beim Essen auf das Gespräch und nicht auf das Schmatzen", sagt Röpke. Auch Techniken zur Emotionsregulation könnten helfen, mit den negativen Gefühlen umzugehen. Um das zu erlernen, brauchen Betroffene allerdings Unterstützung, etwa in Form einer kognitiven Verhaltenstherapie.
Der 17-jährige Michael wurde an der Universität Boulder in den USA mit einem gezielten Achtsamkeitstraining behandelt. Nach sechs Monaten seien die Symptome deutlich zurückgegangen: Michael habe im Alltag keine nennenswerten Schwierigkeiten mehr, heisst es in der Studie. Ob das auch anderen Patientinnen und Patienten helfen kann? Eine generelle Empfehlung bei der Behandlung sei schwierig, sagt Röpke. "Man muss verschiedene Ansätze ausprobieren, um herauszufinden, was der Person im Einzelfall am besten hilft."
Über den Gesprächspartner
- Prof. Dr. Stefan Röpke ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. An der Oberberg Fachklinik Berlin-Brandenburg und der Oberberg Tagesklinik Kurfürstendamm ist er als ärztlicher Direktor und Chefarzt tätig.
Verwendete Quellen
- Telefoninterview mit Prof. Dr. Stefan Röpke, ärztlicher Direktor und Chefarzt der Oberberg Fachklinik Berlin-Brandenburg
- Schneider et al., 2017, Journal of Contextual Behavioral Science: "Case study: A novel application of mindfulness- and acceptance-based components to treat misophonia" (PDF)
- Kumar et al., 2017, Current Biology: "The Brain Basis for Misophonia" (PDF)
- Schwemmle und Arens, 2022, HNO: "Wut im Ohr: Misophonie"
- Ärzteblatt: "Misophonie: Wenn Alltagsgeräusche krank machen"
- Misophonie.de: "Wenn Geräusche Wut auslösen – Informationen und Hilfe"
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