Am 17. Dezember 1938 katapultierte der deutsche Chemiker Otto Hahn mit der Entdeckung der Kernspaltung die Welt ins atomare Zeitalter. Seine Forschung hat bis heute zwei Gesichter: Während im nuklearen Feuer von Hiroshima und Nagasaki Menschen und Menschenwürde verbrannten, bot die Kernkraft auch die Aussicht auf eine "saubere" Energiequelle abseits von Kohle und Öl – doch auch die friedliche Nutzung ist mit hohen Risiken verbunden, wie die Unfälle von Tschernobyl und Fukushima zeigen. Und so spaltet Hahns Entdeckung selbst nach 75 Jahren nicht nur Atomkerne, sondern auch die Gesellschaft.

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Otto Hahn wurde am 8. März 1879 als jüngster Sohn des Unternehmers Heinrich Hahn und dessen Frau Charlotte Hahn in Frankfurt am Main geboren. Bereits in jungen Jahren begeisterte sich der Junge für Chemie. Seine ersten Experimente führte er in der Waschküche der Eltern durch. Nach Abitur und akademischer Ausbildung wurde Hahn schliesslich 1910 Professor in der radiochemische Abteilung im neugeschaffenen Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie in Berlin (heute Freie Universität Berlin). Bereits 1907 lernte er die Physikerin Lise Meitner kennen. Zusammen entdeckten sie viele bis dahin unbekannte radioaktive Isotope. Sie verband eine 30-jährige Zusammenarbeit und eine innige Freundschaft.

Die Entdeckung der Kernspaltung

Gemeinsam mit Meitner und seinem Assistenten Fritz Strassmann versuchte Hahn dem Geheimnis des Atoms weiter auf den Grund zu gehen. Im Juli 1938 emigrierte Lise Meitner mit Hahns Hilfe nach Schweden. Nach dem Anschluss Österreichs an Nazideutschland hatte die Jüdin ihre Staatsbürgerschaft verloren und war aufgrund ihrer Abstammung besonders gefährdet. So konnte sie am entscheidenden Experiment am 17. Dezember 1938 - der berühmten "Radium-Barium-Mesothorium-Fraktionierung" - nicht selbst teilnehmen. Otto Hahn schloss nach der Auswertung der Daten auf ein "Zerplatzen" des Urankerns in mittelschwere Atomkerne. Die Ergebnisse wurden durch Berechnung der Zerfallsprodukte bestätigt, die Kernspaltung war entdeckt. 1944 bekam er dafür den Nobelpreis für Chemie. Hahn gilt bis heute als wichtigster Chemiker der Geschichte.

"Nach dem damaligen Stand der Wissenschaft galt es als unmöglich, dass ein Atomkern in der Mitte ‎auseinanderfliegen kann", erläutert der Mainzer Chemiker und ehemalige Strassmann-Schüler Norbert ‎Trautmann die Entdeckung der Nachrichtenagentur "dpa". Die Forschung sei damals davon ausgegangen, dass durch die Bestrahlung mit Neutronen nur ‎Elemente entstehen können, die sich wenig vom Ausgangselement unterscheiden. Hahn und Strassmann hätten auch gleich erkannt, dass dabei sehr ‎viel Energie frei werde. "Kurz danach wurde von anderen ‎Forschern gezeigt, dass bei der Spaltung neue ‎Neutronen entstehen, die in einer Kettenreaktion ‎wiederum Atomkerne spalten können", erklärt der Chemiker.

Hahn, der Grossvater der Atombombe

Hahns ‎Entdeckung machte sich die ‎Atomindustrie nur wenige Jahre später zunutze. ‎Bereits 1942 entstand in den USA mit "Chicago Pile 1" der erste Atomreaktor. Seine Aufgabe: Die weitere Erforschung von Kernspaltung und Kettenreaktion - und die Herstellung von waffenfähigem Kernmaterial für das streng geheime "Manhattan Projekt", dem Bau der ersten Atombombe. Am 16. Juli 1945 detonierte mit "The Gadget" auf dem Trinity-Testgelände in den USA die erste Nuklearwaffe der Menschheit. Physiker Robert Oppenheimer, der Leiter des Projekts und damit "Vater der Atombombe", erinnerte sich 1965 in einem Interview an den Moment der Explosion: "Jetzt bin ich der Tod geworden, der Zerstörer der Welten." Die Bomben "Little Boy" und "Fat Man" vernichteten im Anschluss die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki, tausende Menschen verbrannten in der Hitze der Explosionen, hunderttausende litten an den Spätfolgen der atomaren Verseuchung. Damit war Otto Hahn zum "Grossvater der Nuklearwaffe" geworden.

Hahn selbst bezeichnete die Nutzung der Kernspaltung für militärische Zwecke später als "Schweinerei", ‎mit der er nichts zu tun habe. Auch Strassmann und Meitner waren geschockt. Die Forschung habe damals die Atomenergie als die Lösung des Energieproblems der Menschheit betrachtet und dabei die ‎Folgen nicht bedacht, wie Meitners Biografin Charlotte Kerner zu bedenken gibt. So wundert es nicht, dass Hahn sich vehement gegen den Einsatz seiner Entdeckung als Waffe aussprach und sich stattdessen für die zivile Nutzung engagierte. Doch auch diese birgt unkalkulierbare Risiken, wie die Menschheit schmerzlich erfahren musste.

Von Tschernobyl bis Fukushima

Am 26. April 1986 ereignete sich im ukrainischen Kernkraftwerk Tschernobyl eine der grössten Nuklearkatastrophen der Geschichte. Aufgrund technischer Fehler und des Versagens des Personals kam es zu einer Kernschmelze und der Explosion des Reaktors - ein Unfall der bislang als ausgeschlossen galt. Hochradioaktives Material wurde in die Umwelt abgegeben, weite Teile des Landes verseucht, die Strahlung erreichte selbst Zentraleuropa. Viele der Ersthelfer starben binnen Tagen an den hohen Strahlendosen, die Bevölkerung leidet bis heute an den Spätfolgen wie Krebs. Das Gebiet um den Reaktor ist für Jahrzehnte eine verstrahlte "Todeszone". Tschernobyl führte zu einem ersten Umdenken in Politik und Gesellschaft. Umweltorganisationen erfuhren grossen Zulauf. Die grossen Probleme der vermeintlich "sauberen Energie" traten in den Vordergrund: Risiko eines Unfalls, Auswirkungen auf die Umwelt, Lagerung der hochradioaktiven Abfälle. Am 11. März 2011 wurden sie wieder akut, als ein Tsunami das japanische Kraftwerk Fukushima Daiichi traf.

Die Welle legte das Kühlsystem mehrerer Reaktorblöcke lahm, es kam zu einer unkontrollierten Kernspaltung und erneut einer Kernschmelze. Wieder wurden weite Teile der Umgebung radioaktiv verseucht, wieder mussten Menschen ihre Heimat verlassen - wahrscheinlich für immer. Die öffentliche Meinung in vielen Ländern kippte nach dem Zwischenfall gegen die Kernkraft. Der Bau neuer Atomkraftwerke wurde vorerst auf Eis gelegt, das Schicksal der weltweit laut internationaler Atomenergie-Organisation IAEA 434 Reaktoren ist ungewiss.

Die Zukunft der Kernenergie

Kommt nun das Ende der Entdeckung von Otto Hahn? Wohl nicht. Selbst wenn sofort alle Atomkraftwerke abgeschaltet würden, ihr Rückbau und die Lagerung des Materials würde noch Jahre oder Jahrzehnte dauern. Zudem ist die moderne Gesellschaft auf günstige Energie angewiesen und der Umweltschutz spielt eine grosse Rolle. Auch wenn das im Hinblick auf Tschernobyl und Fukushima suspekt klingt: Der Energiehunger der Menschheit liesse sich momentan nur schwer mit Kohle, Öl und erneuerbaren Energien decken. Das Klima würde durch den erhöhten Ausstoss von Treibhausgasen weiter leider, der Planet sich schneller erhitzen. Deswegen sieht die Politik die Kernkraft auch als "Brückentechnologie", einen Übergang hin zu wirklich sauberen und erneuerbaren Energien - Risiko inklusive.

Allerdings könnte Hahns Forschung der Menschheit doch noch den erhofften Segen bringen, nicht in Form der Kernspaltung, sondern als Kernfusion. Atome lassen sich nämlich nicht nur spalten, sie können auch verschmelzen und dabei Energie freisetzen. Diese Energie bringt unsere Sonne zum Glühen. Forscher arbeiten seit mehreren Jahrzehnten am Bau eines Fusionsreaktors in dem Wasserstoff zu Helium verschmelzen soll - denn Wasserstoff ist auf der Erde fast unbegrenzt als Wasser vorhanden. Und so würde Hahn vielleicht vom "Grossvater der Atombombe" zum "Urgrossvater der Kernfusion". Denn ohne seine Entdeckung, der Spaltbarkeit des Atomkerns, wäre die Welt heute eine andere - im Positiven, wie im Negativen.

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