Warum trifft Alzheimer Frauen so viel öfter? Diese Frage ist noch immer ungeklärt. Die Schweizer Hirnforscherin Antonella Santuccione Chadha spricht über die Rolle der Hormone bei der Entstehung von Alzheimer und über das neue Medikament Lecanemab, das in der EU bald zugelassen werden könnte.

Ein Interview

Frauen sind häufiger als Männer von Alzheimer betroffen. Von welchen Zahlen sprechen wir da?

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Antonella Santuccione Chadha: Derzeit leiden etwa 20,9 Millionen Frauen weltweit an Alzheimer, verglichen mit 11,4 Millionen Männern. Das sind zwar Schätzwerte, aber sie zeigen, dass der Anteil erkrankter Frauen fast doppelt so hoch ist.

Kann das nicht an der höheren Lebens­erwartung von Frauen liegen?

Nicht nur. Frauen leben zwar länger als Männer, aber sie leben auch länger mit Demenz. Und zwar schon in der präklinischen Phase. Das heisst, bevor die ersten Symptome auftreten, gibt es einen weit höheren Anteil betroffener Frauen. Das haben wir in einer Studie nachgewiesen.

"Erkrankt eine Frau an Alzheimer, geht es schneller bergab."

Hirnforscherin Antonella Santuccione Chadha

Was ist bei Frauen im Vergleich zu Männern anders, wenn sie Alzheimer bekommen?

Erkrankt eine Frau an Alzheimer, geht es schneller bergab. Sie erlebt einen ra­scheren und dramatischeren Verfall ihrer kognitiven Fähigkeiten, vor allem der sprachlichen. Zum Beispiel machen sich Wortfindungsstörungen stärker bemerkbar. Auch finden sich in weiblichen Alzheimer­-Gehirnen mehr toxische Pro­teine als in denen der Männer, das Hirn­gewebe baut sich zügiger ab. Ausserdem zeigen Frauen zu Beginn der Erkrankung vermehrt de­pressive Symptome, während Männer stär­ker zu Aggressionen neigen. Die Ursachen sind noch unbekannt. Wir vermuten aber, dass mehrere Faktoren zusammenwirken, medizinische und soziokulturelle.

Welche medizinischen Faktoren sind das?

Vor allem die Hormone stehen im Fo­kus. Frauen durchlaufen verschiedene hor­monelle Phasen, die Männer nicht haben: Menstruationszyklen, Schwangerschaften, Menopause, Postmenopause. Hinzu kom­men Eingriffe durch die Antibabypille, Kinderwunschbehandlungen oder die Hor­monersatztherapie in den Wechseljahren. Dass hormonelle Veränderungen an der Entstehung von Alzheimer beteiligt sind, legen viele Studien nahe.

Wie wirkt sich das aus?

Sexualhormone, vor allem Östrogene, scheinen die Nerven­zellen zu schützen, etwa vor Entzündungen. Sinkt ihr Spiegel in den Wechseljahren oder durch Entfernung der Eierstöcke, treten in Folge häufiger kognitive Beeinträchtigun­gen auf. Auch der körperliche Alterungsprozess scheint sich zu beschleunigen, was wiederum den Hirnstoffwechsel ausbremst. Aber wir wissen noch zu wenig und führen zum Teil auch kontroverse Debatten.

Worüber?

Es gibt eine intensive Diskussion zu der Frage, ob die Antibabypille Einfluss auf kognitive Funktionen im Gehirn hat. Während manche Forschende sagen, die Pille reduziere das Risiko für Demenz, behaupten andere das Gegenteil. Wir brau­chen viel mehr Forschung, um gesicherte Aussagen treffen zu können.

"Nach den Erkenntnissen einiger Studien könnten Schwangerschaften das Alzheimer-Risiko erhöhen, vor allem wenn es viele sind."

Hirnforscherin Antonella Santuccione Chadha

Eine andere Debatte dreht sich um Schwangerschaften. Nach den Erkenntnissen einiger Studien könnten Schwangerschaften das Alzheimer-Risiko erhöhen, vor allem wenn es viele sind. Was sowohl am Schlafmangel von Müttern liegen könnte als auch an den hormonellen Einflüssen. Aber auch da stehen wir mit der Recherche noch am Anfang. Der lange Zeitraum zwischen der letzten Schwangerschaft und dem Ausbruch der Krankheit macht es sehr schwer, Wirkzusammenhänge zu untersuchen. Selbst zwischen der Menopause und dem ersten Auftreten von Alzheimer-Symptomen können 20 Jahre liegen. Irgendetwas passiert in dieser Zeit im weiblichen Gehirn. Es sammeln sich dort zum Beispiel mehr toxische Tau-Proteine an, verglichen mit einem männlichen Gehirn. Doch was genau vor sich geht, wissen wir noch nicht.

Nun gibt es zum ersten Mal die Möglichkeit einer medikamentösen Therapie. In klinischen Studien hat das Mittel Lecanemab Beta-Amyloid-Plaques verringert, also die typischen Ablagerungen im Gehirn, die bei Alzheimer auftreten. Ausserdem hat das Medikament kognitive Einschränkungen verzögert. Doch bei Frauen scheint Lecanemab weniger zu wirken. Der positive Effekt beträgt nur 12 Prozent im Vergleich zu 43 Prozent bei Männern.

Es stimmt, dass sich während der klinischen Studie bei Frauen eine geringere Wirksamkeit gezeigt hat. Aber das heisst nicht – und das ist sehr wichtig –, dass Lecanemab bei Frauen nicht wirkt. Es könnte sein, dass die Patientinnen, die für die Studie rekrutiert wurden, bereits zu krank waren. Lecanemab scheint vor allem in einem sehr frühen Alzheimer-Stadium zu wirken. Vielleicht brauchen Frauen mit einer stärkeren Schädigung des Gehirns eine höhere Dosis oder eine andere Art der Verabreichung.

Hinzu kommt, dass die Skalen, mit denen die kognitiven Leistungen bewertet werden, an Männern ausgerichtet sind, es gibt also einen geschlechterabhängigen Bias. Und schliesslich haben an den klinischen Studien rund 50 Prozent Männer und 50 Prozent Frauen teilgenommen, was nicht der Realität entspricht, also nicht dem Frauenüberhang, der bei dieser Erkrankung typisch ist. Kurz gesagt glauben wir, dass das Studiendesign nicht korrekt die Variabilität der Krankheit abgebildet hat.

Bei Frauen zeigte sich in den klinischen Studien auch ein höheres Risiko für starke Nebenwirkungen wie Hirnschwellungen oder Hirnblutungen. Befürworten Sie vor diesem Hintergrund eine Zulassung von Lecanemab in der EU?

Meine grösste Befürchtung ist, dass es nicht zugelassen wird. Es wäre fatal, wenn Frauen von der Therapie ausgeschlossen würden. Deshalb wäre ich sehr dafür, das Medikament jetzt zuzulassen, es zu verschreiben und die Patientinnen ganz engmaschig bei der Therapie zu begleiten, um die Gefahr einer Hirnblutung frühzeitig zu entdecken. Es kann sein, dass es zu schlimmen Nebenwirkungen kommt, ja. Aber das haben wir auch bei der Krebstherapie. Es gibt Kranke, die nicht am Krebs sterben, sondern an den Nebenwirkungen der Chemotherapie, und trotzdem wird sie verschrieben.

"Alzheimer ist eine sehr komplexe Erkrankung, die zum Tod führt und dabei viele Jahre lang enorm qualvoll verläuft."

Hirnforscherin Antonella Santuccione Chadha

Ich halte Alzheimer für schlimmer als Krebs. Alzheimer ist eine sehr komplexe Erkrankung, die zum Tod führt und dabei viele Jahre lang enorm qualvoll verläuft. Und was wir nicht vergessen dürfen: Betroffene Frauen haben oft niemanden mehr, der sie pflegt. Auch das ist ein Unterschied zu Männern, die häufig noch von ihren Frauen betreut werden. Wird das Medikament also nicht zugelassen, dann bedeutet das letzten Endes, dass Frauen keine Chance haben, überhaupt ein Medikament gegen Alzheimer zu erhalten. Dass sie mit dieser Krankheit alleingelassen werden.

Haben Sie an der Forschung zu Lecanemab mitgearbeitet?

Nein, die Women's Brain Foundation hat sich nicht an dem Paper beteiligt. Das ist eine von uns unabhängige Studie. Aber ich habe die ersten Daten zu Lecanemab eingesehen.

Zur Person und zur Women's Brain Foundation

  • Dr. Antonella Santuccione Chadha ist Hirnforscherin und Co-Gründerin der unabhängigen Forschungsstiftung Women's Brain Foundation (WBF) mit Sitz in der Schweiz. Als klinische Pathologin und Neurowissenschaftlerin war sie mehrere Jahre an der ETH Zürich tätig, später arbeitete sie bei der Schweizer Zulassungsbehörde Swissmedic als klinische Gutachterin im Bereich psychiatrischer und neurologischer Erkrankungen. Mit der WBF erforscht Santuccione Chadha den "Brain Gap", wie sie es nennt, also die Ursachen, warum einige Hirnerkrankungen Frauen deutlich häufiger treffen als Männer. Zu ihnen gehören die Demenz und da besonders die Alzheimer-Erkrankung, an der Frauen fast doppelt so oft leiden wie Männer. Das Ziel der WBF ist es, die geschlechtsspezifischen Unterschiede in der körperlichen und geistigen Gesundheit zu untersuchen und so die Präzisionsmedizin voranzubringen. 2018 hat Santuccione Chadha mit ihrem Team am Women's Brain Project (frühere Bezeichnung der Foundation) eine Übersichtsstudie zu Alzheimer bei Männern und Frauen veröffentlicht, 2022 eine Arbeit zur geschätzten Anzahl an Alzheimer-Erkrankten weltweit.

Würden Sie dieses Medikament Ihrer Mutter empfehlen?

Ja, sofort. Ich würde es auch selbst nehmen, und zwar, sobald die ersten Symptome von Alzheimer an mir auftreten. Ich würde es jedoch keiner Frau verschreiben, deren Erkrankung schon zu weit fortgeschritten ist, die schon zu starke Symptome zeigt. Meine Vermutung ist, dass Lecanemab vor allem vorbeugend wirkt. Meine persönliche Meinung ist: Ich würde lieber die Nebenwirkungen riskieren als dabei zuzusehen, wie Geist und Körper meiner Mutter oder meiner selbst verschwinden.

Warum auch der Körper?

Weil das Gehirn die Schaltzentrale unseres gesamten Körpers ist. Wenn das Gehirn schrumpft, wird auch der Körper nach und nach in seinen Funktionen beeinträchtigt: Wir können nicht mehr gehen, nicht mehr richtig sehen, nicht mehr schlucken. Dies geschieht sehr langsam und am Ende sterben wir.

Gilt Ihre Empfehlung auch für den Fall, dass das Medikament bei Frauen nicht gut wirkt?

Wir wissen nach jetzigem Stand noch nicht, wie gut oder nicht gut es unter echten Bedingungen bei Frauen wirkt. Wir müssen über Lecanemab noch viel lernen, in der realen Welt. Nicht nur in einer klinischen Studie, weil man dort die Wirklichkeit nicht so abbilden kann, wie sie nun mal ist. Das ist nicht der Querschnitt der Bevölkerung, der da untersucht wird. Bei Frauen müssen die Ärztinnen und Ärzte wegen der Gefahr der Nebenwirkungen doppelt gut aufpassen. Auch bei Psychopharmaka kann es übrigens zu sehr schweren Nebenwirkungen kommen, etwa zum neuroleptischen malignen Syndrom, das lebensbedrohlich sein kann. Und wir wissen, dass mehr Frauen als Männer Psychopharmaka bekommen, vor allem wenn sie in Heimen leben.

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Was können Frauen generell tun, um ihr Alzheimer-Risiko zu verringern?

Rund 40 Prozent der individuellen Risiken für Demenzerkrankungen lassen sich durch den eigenen Lebensstil beeinflussen. Bewegung etwa ist ein absolutes Muss für Frauen und ihr gesundes Gehirn. Sie reduziert das Risiko, an Altersdiabetes zu erkranken. Diabetes wiederum ist ein Gefährdungsfaktor für Alzheimer. Natürlich profitieren Männer auch von diesen Massnahmen, aber für Frauen sind sie wirklich wichtig, weil ihr Demenzrisiko höher ist. Das Nächste wäre kognitives Training: etwas Neues lernen, sich weiterbilden, das Gehirn ständig fordern. Ich träume davon, dass die Gynäkologin künftig nicht nur Geschlechtsorgane untersucht, sondern auch die Gehirngesundheit, mithilfe von Kognitionstests. Und noch etwas ist entscheidend: Frauen sollten ihre sozialen Kontakte pflegen.

"Einsamkeit ist ein Risikofaktor für Alzheimer."

Hirnforscherin Antonella Santuccione Chadha

Warum ist das so wichtig?

Einsamkeit ist ein Risikofaktor für Alzheimer. Wir haben festgestellt, dass Frauen, die eine demente Person betreuen, stärker gefährdet sind, selbst an Demenz zu erkranken. Wer 24 Stunden am Tag einen kranken Menschen betreut, hat kaum noch Zeit für andere Kontakte. Hinzu kommen der hohe seelische Druck und die physische Belastung – etwa durch mangelnden Schlaf –, die eine betreuende Person aushalten muss. Das sind auch Risikofaktoren für eine Depression, an der etwa doppelt so viele Frauen wie Männer erkranken. Depressionen wiederum erhöhen das Alzheimer-Risiko. Da bedingen sich also zwei Hirnerkrankungen gegenseitig.

Weitere Veröffentlichungen

  • Maximizing utility of neuropsychological measures in sex-specific predictive models of incident Alzheimer's disease in the Framingham Heart Study
  • National plans and awareness campaigns as priorities for achieving global brain health
  • The impact of informant-related characteristics including sex/gender on assessment of Alzheimer's disease symptoms and severity (Meinungsartikel)

Über RiffReporter

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Verwendete Quellen

Die Alzheimer-Krankheit kann in seltenen Fällen vererbt werden.

Studie weist erbliche Form von Alzheimer nach

Die Alzheimer-Krankheit ist nur in seltenen Fällen erblich. Forschende konnten nun aber zeigen, dass eine bestimmte Gen-Kombination immer zu Merkmalen von Alzheimer führt.

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