Forschende haben den bislang detailliertesten Schaltplan eines Gehirns erstellt – und das aus einem winzigen Stück Mausgehirn. Was dieser Fortschritt für die Neurowissenschaften und die Untersuchung von Krankheiten wie Alzheimer und Parkinson bedeutet.
Ein Kubikmillimeter – das ist etwa so gross wie ein Mohnsamen. Wie viele Nervenzellen hat wohl ein so winziger Würfel Mäusegehirn? Rund 84.000 Neuronen, wie Teams von insgesamt mehr als 150 Forschenden in einer Serie aufeinander aufbauender Studien berichten. Ausserdem gebe es etwa eine halbe Milliarde Kontaktstellen zwischen Nervenzellen – Synapsen genannt – und rund 5,4 Kilometer neuronale Verdrahtung.
Das entstandene Schaltbild und die dazugehörigen Daten haben eine Grösse von 1,6 Petabyte – was 22 Jahren ununterbrochener HD-Videowiedergabe entspricht, wie es vom beteiligten Allen Institute, einer gemeinnützigen Forschungseinrichtung, heisst. Obwohl nur eine sandkornkleine Gewebeprobe untersucht wurde, helfe der vollständige funktionelle Schaltplan dieses Hirnwürfels zu beschreiben, wie das Gehirn insgesamt organisiert ist und wie verschiedene Zelltypen zusammenarbeiten.
Die Ergebnisse des Gemeinschaftsprojekts "Microns" (Machine Intelligence from Cortical Networks) wurden in "Nature"-Fachjournalen veröffentlicht. Generell bestehen Gehirne aus einem Netzwerk von Zellen, einschliesslich der Neuronen, die durch Reize aktiviert und durch Synapsen verbunden werden. Grundlage kognitiver Funktionen ist das Zusammenspiel zwischen neuronaler Aktivierung und der Vernetzung der Zellen.
Erstellung von Schaltplan galt als unmöglich
1979 hatte der berühmte Molekularbiologe Francis Crick (1916–2004) dem Allen Institute zufolge erklärt, es sei unmöglich, einen genauen Schaltplan auch nur für einen Kubikmillimeter Hirngewebe und die Art und Weise, wie alle seine Neuronen feuern, zu erstellen. In den letzten sieben Jahren habe das weltweite "Microns"-Team dieses Ziel nun realistischer werden lassen. Crick hatte mit James Watson und Maurice Wilkins das berühmte Doppelhelix-Modell der Erbgutsubstanz DNA entwickelt, ein Meilenstein in der Biologie.
Die "Microns"-Wissenschaftler zeichneten zunächst mit speziellen Mikroskopen die Aktivität von rund 75.000 Neuronen in einem einen Kubikmillimeter grossen Teil des visuellen Kortex einer Maus auf, die über Tage hinweg verschiedene Videoaufnahmen vorgespielt bekam. Das Tier war genetisch so verändert, dass seine Neuronen ein fluoreszierendes Protein aussendeten, wenn sie aktiv waren.
Anschliessend wurde derselbe Kubikmillimeter des Gehirns in rund 28.000 Schichten zerlegt. Von jeder Schicht wurden hochauflösende Bilder angefertigt. Ein anderes Team wiederum setzte Künstliche Intelligenz und maschinelles Lernen ein, um die Zellen und Verbindungen in 3D zu rekonstruieren.
Bisher grösster Schaltplan des Gehirns
Zusammen mit den Aufzeichnungen der Hirnaktivität war das Ergebnis der bisher grösste Schaltplan des Gehirns, wie das Allen Institute mitteilte. Insgesamt mehr als 200.000 Zellen, davon etwa 84.000 Neuronen, 524 Millionen synaptische Verbindungen und mehrere Kilometer Axone – Verzweigungen, die zu anderen Zellen führen – seien identifiziert worden. Unter anderem im Bereich der Axone würden die gewaltigen Datensätze derzeit weiter geprüft und verbessert.
Die Ergebnisse böten neue Möglichkeiten zur Untersuchung des Gehirns, hiess es von der Forschungseinrichtung. Das betreffe auch Krankheiten wie Alzheimer, Parkinson und Schizophrenie oder auch Entwicklungsstörungen wie Autismus, bei denen die neuronale Kommunikation gestört ist. "Wenn man ein kaputtes Radio hat und den Schaltplan kennt, kann man es besser reparieren", sagte Mitautor Nuno da Costa. In Zukunft könne mit der Blaupause die Gehirnverdrahtung in einer gesunden Maus mit der in einem Krankheitsmodell verglichen werden.
Zu den überraschendsten Erkenntnissen der Teams gehörte den Angaben zufolge die Entdeckung eines neuen Prinzips der Hemmung im Gehirn. Bisher sei angenommen worden, dass hemmende Zellen – also solche, die neuronale Aktivität unterdrücken – einfach direkt die Wirkung anderer Zellen dämpfen. Tatsächlich sei das Geschehen komplexer: Hemmende Zellen sprächen Zielzellen teils sehr selektiv in einem System der Koordination und Kooperation an. Einige hemmende Zellen arbeiten zusammen und unterdrücken mehrere erregende Zellen, während andere präziser nur bestimmte Typen ansprechen, wie die Forschenden erläutern.
Abweichungen von Tier zu Tier?
Zu den Einschränkungen der Analysen zählt, dass die Daten von einem einzigen Tier einer einzigen Art stammen und daher zunächst nur eingeschränkt verallgemeinerbar sind. Zudem enthielten sie von bestimmten Zelltypen jeweils nur wenige Exemplare.
Der visuelle Kortex von Mäusen habe Ähnlichkeiten mit dem anderer Säugetiere einschliesslich des Menschen, erläutern die Forschenden auch. Es handle sich aber nur um eine kleine Region des Gehirns. Um komplette Schaltkreise zu untersuchen, seien umfassendere Karten erforderlich – wofür aber Technik und Methoden erst weiter verbessert werden müssten.
Lesen Sie auch
- Studie liefert düstere Prognose zu Parkinson
- Diese Impfung kann vor Demenz schützen
"Trotz dieser Einschränkungen stellt diese Arbeit einen grossen Schritt nach vorn dar und bietet eine unschätzbare Gemeinschaftsressource für zukünftige Entdeckungen in den Neurowissenschaften", schreiben Mariela Petkova und Gregor Schuhknecht von der Harvard University in Cambridge in einem begleitenden Kommentar in "Nature".
Das "Microns"-Projekt sei der bisher am umfassendsten zusammengestellte Datensatz, der die Gehirnstruktur mit der neuronalen Aktivität eines aktiven Säugetiers verbinde. (dpa/bearbeitet von ali)